Helgas Stimme wurde unversehens lauter. »Seines Bruders? Was für eines Bruders?« »Er hatte einen älteren Bruder. Sein großes Vorbild. Ein großer Kämpfer. Der Bruder hat ihm die Pistole gegeben, und zum Schwur musste ich sie küssen.«
Fassungslos starrte Helga sie an. »Das hat Michel Ihnen erzählt?«
»Nein, ich hab’s in der Zeitung gelesen - wo denn sonst?« »Wann hat er Ihnen das erzählt?« »Auf einer Hügelkuppe in Griechenland.« »Was noch von seinem Bruder - rasch!« Sie schrie fast. »Michel hat ihn angebetet. Habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Handfeste Fakten. Nur handfeste Fakten. Was hat er Ihnen sonst noch von seinem Bruder erzählt?«
Doch die verborgene Stimme in Charlie sagte ihr, dass sie bereits weit genug gegangen sei. »Er ist ein militärisches Geheimnis«, sagte sie und nahm sich wieder eine Zigarette.
»Hat er Ihnen gesagt, wo er ist? Was er macht? Charlie, ich befehle Ihnen, es mir zu sagen!« Sie rückte ein Stück näher. »Polizei. Geheimdienst, vielleicht sogar die Zionisten - alle halten Ausschau nach Ihnen. Wir haben ausgezeichnete Beziehungen zu bestimmten Bereichen der deutschen Polizei. Sie wissen bereits, dass es nicht die Holländerin war, die den Mercedes durch Jugoslawien gefahren hat. Sie haben Beschreibungen. Sie haben überhaupt eine Menge Sie belastendes Material. Wenn wir wollen, können wir Ihnen helfen. Aber nicht, ehe Sie uns nicht alles gesagt haben, was Michel Ihnen über seinen Bruder anvertraut hat.« Sie lehnte sich vor, bis ihre großen blassen Augen nur noch eine Handbreit von Charlies Augen entfernt waren. »Er hat kein Recht dazu gehabt, Ihnen von ihm zu erzählen. Sie haben kein Recht auf diese Information. Geben Sie sie mir!«
Charlie erwog Helgas Ersuchen, doch nachdem sie gebührend darüber nachgedacht hatte, lehnte sie es ab. »Nein«, sagte sie. Sie hatte vorgehabt, ein: Ich hab’s versprochen, und dabei bleibt’s, folgen zu lassen, ein: Ich traue Ihnen nicht - lassen Sie mich in Ruhe! Doch nachdem sie ihrem schlichten »Nein« eine Zeitlang nachgelauscht hatte, fand sie, es sei doch besser, dem nichts hinzuzufügen.
Deine Aufgabe ist es, sie dazu zu bringen, dass sie dich brauchen, hatte Joseph zu ihr gesagt. Betrachte es als eine Art Liebeswerben. Am höchsten schätzen sie, was sie nicht bekommen können.
Helga hatte eine überirdische Fassung gewonnen. Die Zeit der Schmierenkomödiantin war vorbei. Jetzt war sie in eine Phase eiskalter Distanziertheit eingetreten, die Charlie instinktiv begriff, denn das war etwas, wozu sie auch in der Lage war.
»So. Sie haben den Wagen nach Österreich gefahren. Und dann?«
»Ich hab’ ihn abgestellt, wo er es mir gesagt hatte, dann trafen wir uns und fuhren nach Salzburg.«
»Wie?«
»Flugzeug und Auto.« »Und? In Salzburg?« »Gingen wir in ein Hotel.« »Wie hieß das Hotel, bitte?« »Weiß ich nicht mehr. Ist mir nicht aufgefallen.« »Dann beschreiben Sie es.«
»Es war alt und groß und lag an einem Fluss. Und schön war es«, setzte sie noch hinzu.
»Und Sie haben miteinander geschlafen, er war potent und hatte viele Orgasmen, wie immer.«
»Wir haben einen Spaziergang gemacht.«
»Und nach dem Spaziergang haben Sie miteinander geschlafen. Seien Sie doch bitte nicht albern.«
Und wieder ließ Charlie sie warten. »Das hatten wir zwar vor, aber nachdem wir erst mal zu Abend gegessen hatten, bin ich einfach eingeschlafen. Ich war nach der Fahrt völlig erschöpft. Er hat ein paar Mal versucht, mich zu wecken, es dann jedoch aufgegeben.
Und als ich morgens aufwachte, war er bereits angezogen.«
»Und dann sind Sie mit ihm nach München gefahren - ja?«
»Nein.«
»Ja, was haben Sie denn gemacht?«
»Die Nachmittagsmaschine nach London genommen.«
»Was für ein Auto hatte er?«
»Einen Mietwagen.«
»Welche Marke?«
Sie gab vor, sich nicht mehr zu erinnern.
»Warum sind Sie nicht mit ihm nach München gefahren?«
»Er wollte nicht, dass wir zusammen über die Grenze gingen. Er hat gesagt, er hätte zu arbeiten.«
»Das hat er Ihnen gesagt? Zu arbeiten? Unsinn! Was für Arbeit? Kein Wunder, dass Sie imstande waren, ihn zu verraten.« »Er sagte, er habe Befehle, den Mercedes abzuholen und ihn für seinen Bruder irgendwohin zu bringen.«
Diesmal zeigte sich Helga über das Ausmaß von Michels abgrundtiefer Indiskretion nicht mehr überrascht, nicht einmal ungehalten. Sie hatte sich auf Handeln eingestellt, und ans Handeln glaubte sie. Mit wenigen ausgreifenden Schritten war sie an der Tür, riss sie auf und winkte Mesterbein herrisch, wieder hereinzukommen. Die Hände auf den Hüften, drehte sie ein paar Runden im Zimmer, starrte Charlie mit gefährlichen und erschreckend leeren großen Augen an.
»Sie sind plötzlich wie Rom, Charlie«, erklärte sie. »Alle Wege führen zu Ihnen. Es ist zu vertrackt! Sie sind sein heimliches Liebchen, Sie fahren seinen Wagen, Sie verbringen seine letzte Nacht auf Erden mit ihm! Wussten Sie, was in dem Wagen war, als Sie ihn fuhren?«
»Sprengstoff.«
»Unsinn! Was für Sprengstoff denn?«
»Russischer Plastik-Sprengstoff, zweihundert Pfund.« »Das hat Ihnen die Polizei erzählt! Das ist deren Lüge. Die Polizei lügt immer.«
»Michel hat es mir erzählt.«
Helga stieß ein erbostes falsches Lachen aus. »Ach, Charlie! Jetzt glaube ich Ihnen kein Wort. Jetzt lügen Sie mich von vorn bis hinten an.« Mesterbein, der lautlos hereingekommen war, tauchte drohend hinter ihr auf. »Anton, es ist alles bekannt. Unsere kleine Witwe lügt wie gedruckt, davon bin ich überzeugt. Wir werden nichts unternehmen, um ihr zu helfen. Wir fahren sofort ab.« Mesterbein starrte sie an, Helga starrte sie an. Weder er noch sie schienen auch nur halb so sicher, wie Helgas Worte sie glauben machen wollten. Nicht, dass es Charlie nun so oder so etwas ausgemacht hätte. Sie saß da wie eine in sich zusammengesunkene Puppe, erneut für nichts mehr zugänglich als für ihren Kummer. Helga setzte sich wieder neben Charlie und legte ihr den Arm um die unempfänglichen Schultern. »Wie hieß der Bruder?« sagte sie. »Kommen Sie.« Sie gab ihr einen flüchtigen Kuss aufs Jochbein.
»Vielleicht werden wir Ihre Freunde. Wir müssen vorsichtig sein, müssen ein bisschen bluffen. Das ist natürlich. Na schön, sagen Sie mir erst mal, wie Michel hieß.«
»Salim. Aber ich habe schworen müssen, ihn nie so zu nennen.«
»Und der Name des Bruders?« »Khalil«, murmelte sie. Dann fing sie wieder an zu weinen. »Michel hat ihn angebetet«, sagte sie.
»Und sein Deckname?«
Sie verstand nicht, es war ihr auch egal. »Der war ein militärisches Geheimnis«, sagte sie.
Sie hatte beschlossen, zu fahren, bis sie umfiel - noch mal so was wie Jugoslawien. Ich steige aus dem Stück aus, ich fahre nach Nottingham und bring’ mich in unserem Motelbett um. Sie war wieder auf dem Moor, allein, fuhr fast hundertdreißig, bis sie ums Haar von der Fahrbahn abgekommen wäre. Sie hielt an und nahm die Hände abrupt vom Steuer. Ihre Nackenmuskeln zuckten, als wären es heiße Drähte, und ihr war übel.
Sie saß auf dem Randstreifen, streckte den Kopf vor, bis sie ihn zwischen den Knien hatte. Zwei Wildponies waren herangekommen und starrten sie an. Das Gras war lang und schwer vom Frühtau. Sie ließ die Hände darüber hinfahren und drückte sie zur Kühlung ans Gesicht. Langsam fuhr ein Motorrad vorbei, und sie bemerkte einen jungen Mann, der sie anstarrte, offenbar unsicher, ob er nun anhalten und helfen solle oder nicht. Zwischen den Fingern sah sie ihn hinter dem Horizont verschwinden. Einer von uns, einer von ihnen? Sie stieg wieder ein und notierte sich die Nummer; dies eine Mal traute sie ihrem Gedächtnis nicht. Michels Orchideen lagen neben ihr auf dem Beifahrersitz; sie hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen, als sie sich verabschiedet hatte. »Aber, Charlie, das ist doch wirklich zu albern!« hatte Helga protestiert. »Das ist doch reine Gefühlsduselei bei Ihnen!« Du kannst mich mal, Helga! Sie gehören mir! Sie fuhr über ein baumloses Hochplateau in Rosa-, Braun- und Grautönen. Im Rückspiegel hatte sie den Sonnenaufgang. Aus dem Autoradio kam nichts als Französisch. Es klang wie Fragen und Antworten zu Jungmädchenproblemen, aber sie konnte die Worte nicht verstehen.