»Machen Sie’s doch nicht so spannend«, knurrte Picton. «Wie heißt sie?» Und drückte mit großer Heftigkeit seine Zigarette aus, drückte noch lange weiter, nachdem die Glut schon erloschen war. Als Antwort auf seine Frage reichte Litvak bereits Fotokopien der Passagierliste herum. Er sah blass aus; als ob er Schmerzen hätte. Nachdem er um den Tisch herumgegangen war, schenkte er sich etwas Wasser aus einer Karaffe ein, obwohl er den ganzen Morgen noch so gut wie kein Wort gesagt hatte.
»Zu unserer ersten Verblüffung fanden wir keine ›Johanna‹ darauf, Commander«, gestand Kurtz, als alle sich mit der Passagierliste beschäftigten. »Die einzige, auf die unsere Beschreibung einigermaßen zutraf, war eine gewisse Charmian. Ihren Nachnamen haben Sie vor sich. Die Dame von den Austrian Airlines bestätigte uns die Identifikation - Nummer achtunddreißig auf der Passagierliste. Die Dame erinnerte sich sogar an die Gitarre. Wie der Zufall es wollte, ist sie selbst eine Verehrerin der großen Manitas de Plata, und deshalb hat sie die Gitarre, die einen tiefen Eindruck auf sie machte, auch nicht vergessen.«
»Wieder so eine Freundin«, sagte Picton heiser, und Litvak hüstelte.
Kurtz’ letztes Beweisstück kam gleichfalls aus Litvaks Aktentasche. Kurtz streckte beide Hände danach aus. Litvak legte sie ihm hinein: ein Stoß Fotos, noch ganz klebrig vom Fixierbad. Er verteilte sie stoßweise. Sie zeigten Mesterbein und Helga in der Abflughalle eines Flughafens; Mesterbein starrte verzagt geradeaus in die Luft, während Helga hinter ihm eine Halb-Liter-Flasche zollfreien Whisky kaufte. Mesterbein trug einen Strauß in Seidenpapier gehüllte Orchideen in der Hand.
»Charles-de-Gaulle-Flughafen, Paris, vor sechsunddreißig Stunden«, sagte Kurtz geheimnisvoll. »Berger und Mesterbein, im Begriff, von Paris aus über Gatwick nach Exeter zu fliegen. Mesterbein bestellte bei der Firma Hertz einen Leihwagen ohne Chauffeur, der bei seiner Ankunft in Exeter am Flugplatz bereitstehen sollte. Sie sind gestern ohne die Orchideen wieder nach Paris zurückgekehrt - auf derselben Route, die Berger unter dem Namen Maria Brinkhausen, Schweizerin, ein neuer Deckname, den wir den vielen anderen hinzufügen können. Der Pass gehört zu einer ganzen Serie, die die Ostdeutschen für palästinensischen Bedarf gemacht haben.« Malcolm hatte den Befehl gar nicht erst abgewartet, sondern war bereits durch die Tür verschwunden.
»Ein Jammer, dass Sie nicht auch ein Bild haben, wie sie in Exeter ankamen«, meinte Picton vielsagend, als sie warteten. »Wie Sie sehr wohl wissen, könnten wir das nicht tun, Commander«, sagte Kurtz, als könne er kein Wässerchen trüben.
»Wirklich?« sagte Picton. »Ach!«
»Unsere Herren Vorgesetzten haben ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen, Sir. Keiner fischt ohne vorherige schriftliche Genehmigung in den Gewässern des anderen.«
»Ach, das meinen Sie«, sagte Picton.
Der Waliser Polizeibeamte gab sich nochmals salbungsvoll diplomatisch. »Aus Exeter stammt sie also, Sir?« fragte er Kurtz. »Ein Mädchen aus Devon? Man sollte nicht meinen, dass ein Mädchen vom Lande sich auf Terrorismus einlässt, zumindest nicht unter normalen Umständen, oder?«
Doch an der englischen Küste schien es mit Kurtz’ Informationen plötzlich aufzuhören. Sie hörten, wie Schritte die große Treppe heraufkamen, dann das Knarren von Malcolms Wildlederschuhen. Doch der Waliser, der sich nie entmutigen ließ, versuchte es noch einmal.
»Irgendwie bringe ich Rothaarige nie mit Devon in Verbindung«, klagte er. »Und den Namen Charmian ehrlich gesagt auch nicht. Bess, Rose, vielleicht - Rose könnte ich mir durchaus vorstellen. Aber nicht Charmian, jedenfalls nicht aus Devon. Weiter nördlich, würde ich bei Charmian tippen. London wäre schon denkbar.« Behutsam kam Malcolm wieder herein, ein weicher Schritt folgte vorsichtig dem anderen. Er trug einen Stapel Ordner unter dem Arm: Das Ergebnis von Charlies Ausflügen in die militante Linke. Die untersten waren schon zerfleddert von Alter und Gebrauch. Zeitungsausschnitte und hektographierte Flugblätter schauten hervor.
»Nun, ich muss schon sagen, Sir«, sagte Malcolm, als er seine Last mit einem erleichterten Aufstöhnen auf dem Tisch ablegte, »wenn das nicht unser Mädchen ist, dann sollte sie es sein.«
»Lunch«, bellte Picton, und nachdem er seinen beiden Untergebenen wütend eine Flut von Befehlen zugebrummt hatte, marschierte er mit seinen Gästen in ein riesiges, nach Kohl und Möbelpolitur riechendes Speisezimmer.
Ein Handgranatenleuchter hing über einem zehn Meter langen Tisch, zwei Kerzen brannten, und zwei Stewards in strahlend weißen Jacken waren bemüht, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Picton aß mit ausdruckslosem Gesicht; der leichenblasse Litvak stocherte wie ein Invalide in seinem Essen herum. Kurtz jedoch schien unberührt von der allgemein gedrückten Stimmung. Er plauderte, aber selbstverständlich nicht über irgend etwas Dienstliches; er bezweifle, ob der Commander Jerusalem noch wieder erkennen würde, wenn er das Glück hätte, wieder einmal hinzukommen; und er, Kurtz, genieße es ausgesprochen, zum ersten Mal in einer britischen Offiziersmesse zu speisen. Trotzdem blieb Picton nicht das ganze Essen über. Zweimal rief Captain Malcolm ihn an die Tür, wo sie sich mit gedämpfter Stimme besprachen; einmal wurde er von seinem Vorgesetzten am Telefon verlangt. Und als der Pudding aufgetragen wurde, stand er plötzlich wie angestochen auf, reichte dem Steward seine Damastserviette und marschierte davon, dem Vernehmen nach, um selbst ein paar Anrufe zu tätigen, vielleicht aber auch, um sich am Inhalt des unter Verschluss gehaltenen Whisky-Vorrats in seinem Arbeitszimmer gütlich zu tun.
Abgesehen von den allgegenwärtigen Wachen war der Park so leergefegt wie der Sportplatz einer Schule am ersten Ferientag. Picton erging sich darin mit der schrulligen Rastlosigkeit eines Grundherrn, der mürrisch die Zäune nach Schäden absucht und mit dem Spazierstock nach allem stößt, dessen Aussehen ihm nicht gefällt. Zwanzig Zentimeter tiefer hüpfte fröhlich Kurtz neben ihm her. Aus der Ferne hätte man meinen können, es handelte sich um einen Gefangenen und seinen Bewacher, wenn auch nicht ganz klar wurde, wer nun was war. Ein Stück hinter ihnen trottete Litvak, der beide Aktentaschen trug, und hinter Litvak Mrs. O’Flaherty, Pictons legendäre Schäferhündin. »Mr. Levene hört gern zu, nicht wahr?« Picton platzte so laut mit dieser Frage heraus, dass Litvak sie hören musste. »Guter Zuhörer, gutes Gedächtnis? So was gefällt mir.«