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Es gibt in Jerusalem noch einen funktionsfähigen Galgen, an dem jedoch niemand mehr gehängt wird. Kurtz kannte ihn gut: in der Nähe des alten russischen Viertels, linker Hand, wenn man eine halbfertige Straße hinunterfährt und vor einem alten Doppeltor hält, das zu Jerusalems einstigem Zentralgefängnis führt. Auf den Schildern steht: Zum Museum, aber auch Halle des Heldentums; dort gibt es einen verhutzelten alten Mann, der draußen herumsteht, sich verbeugt und hineinbittet, indem er seinen flachen schwarzen Hut durch den Staub zieht. Der Eintritt kostet fünfzehn Schekel, doch der Preis steigt. Hier hängten die Briten während der Mandatszeit die Juden, und zwar mit einem lederverkleideten Strick. Eigentlich waren es nur wenige, während sie Araber in Massen hängten. Nur hatten sie dort zwei von Kurtz’ Freunden gehängt, damals, als er zusammen mit Misha Gavron bei der Irgun gewesen war. Auch Kurtz hätte ohne weiteres dort enden können. Zweimal hatten sie ihn ins Gefängnis geworfen, viermal einem Verhör unterzogen, und die Schwierigkeiten, die er gelegentlich mit seinen Zähnen hatte, wurden von seinem Zahnarzt auf die Schläge zurückgeführt, die er von der Hand eines jungen liebenswerten, inzwischen verstorbenen Sicherheitsbeamten bekommen hatte, der zwar anders ausgesehen hatte als Picton, dessen Art ihn aber ein wenig an diesen erinnerte.

Trotzdem, ein netter Mann, dieser Picton, dachte Kurtz und lächelte in sich hinein, als er unterwegs über einen weiteren erfolgreichen Schritt nachsann. Ein wenig rauh, vielleicht; vielleicht auch ein bisschen schwerfällig mit Hand und Mund; und traurig darüber, dass er so viel für den Alkohol übrig hatte -was ja immer verheerend ist. Aber letzten Endes anständig wie die meisten Menschen. Und außerdem ein Fachmann auf seinem Gebiet. Ein guter Kopf bei all seiner äußeren Heftigkeit. Misha Gavron hatte immer gesagt, er habe eine Menge von ihm gelernt.

Kapitel 19

Wieder in London, wieder warten. Zwei nasse Herbstwochen lang, seit Helga ihr die schreckliche Nachricht eröffnet hatte, war die Charlie ihrer Phantasie in eine grauenhafte, rachsüchtige Hölle gekommen und schmorte darin allein. Ich stehe unter Schock; ich bin eine besessene, einsame Trauernde ohne einen Freund, an den ich mich wenden könnte. Ich bin ein Soldat, dem man den General genommen hat, eine Revolutionärin, die von der Revolution abgeschnitten ist. Selbst Cathy hatte sie im Stich gelassen. »Von jetzt an schaffst du es ohne Kindermädchen«, hatte Joseph ihr mit einem verzerrten Lächeln gesagt. »Wir können dich nicht mehr in irgendwelche Telefonzellen lassen.« Sie trafen in dieser Zeit zusammen, und jedes Mal war es äußerst geschäftsmäßig; gewöhnlich wurde sie unter sehr genau geplanten Umständen mit dem Auto aufgelesen. Manchmal fuhr er mit ihr in abgelegene Restaurants am Rande Londons; einmal nach Burnham Beeches zum Spazierengehen, einmal in den Zoo im Regent’s Park. Doch wo immer sie auch waren, er sprach unentwegt mit ihr über ihre Geistesverfassung und instruierte sie für alle möglichen Zufälle, ohne jemals genau zu sagen, um was es dabei eigentlich ging. Was werden sie als nächstes tun? fragte sie.

Sie machen Nachprüfungen. Sie beobachten dich, denken über dich nach.

Manchmal erschrak sie über sich selbst, wenn es bei ihr zu unvorhergesehen feindseligen Ausfällen gegen ihn kam, doch versicherte er ihr wie ein guter Arzt, dass diese Symptome in ihrem Zustand ganz normal seien. »Mein Gott, ich bin der archetypische Feind. Ich habe Michel umgebracht, und wenn ich eine Möglichkeit hätte, würde ich dich auch umbringen. Du hast doch allen Grund, mich mit größtem Argwohn zu betrachten.«

Danke für die Absolution, dachte sie und wunderte sich insgeheim über die anscheinend endlosen Facetten ihrer gemeinsamen Schizophrenie: Verstehen heißt verzeihen!

Bis dann der Tag kam, an dem er ihr verkündete, sie dürften vorläufig überhaupt nicht mehr zusammentreffen, es sei denn, es käme zu einer extremen Notsituation. Er schien zu wissen, dass bald etwas passieren würde, weigerte sich jedoch, ihr zu sagen, um was es sich handelte, weil er fürchtete, sie würde nicht entsprechend ihrer Rolle reagieren. Oder überhaupt nicht reagieren. Er sei in der Nähe, sagte er und erinnerte sie an sein Versprechen, das er ihr in dem Haus in Athen gegeben hatte: in der Nähe - aber nicht da - und zwar Tag für Tag. Und nachdem er ihr Gefühl der Unsicherheit - vielleicht sogar absichtlich - fast bis zur Unerträglichkeit strapaziert hatte, schickte er sie zurück in das Leben der Isolation, das er für sie erfunden hatte; diesmal jedoch mit dem Tod ihres Liebhabers als Thema. Ihre einst geliebte Wohnung wurde jetzt, da sie sie bewusst vernachlässigte, zum ungepflegten Schrein der Erinnerung an Michel, wie eine Kapelle zum Ort schmieriger Stille. Bücher und Broschüren, die er ihr geschenkt hatte, lagen an angestrichenen Stellen aufgeschlagen und mit dem Text nach unten über Boden und Tisch verstreut. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, setzte sie sich mit einem Schulheft an ihren Schreibtisch, schob es zwischen das Durcheinander und machte sich Auszüge aus einigen Briefen. Sie hatte vor, eine geheime Denkschrift über ihn zusammenzustellen, aus der er für eine bessere Welt als arabischer Che Guevara hervorgehen sollte. Sie dachte daran, sich an einen ihr bekannten Kleinverleger zu wenden: »Botschaften eines ermordeten Palästinensers«, auf schlechtem Papier gedruckt, mit vielen Druckfehlern. Diese Beschäftigungen waren, wie Charlie sehr wohl wusste, wenn sie die Dinge objektiv betrachtete, irgendwie wahnsinnig. Aber andererseits wusste sie auch, dass es ohne Wahnsinn keine Normalität gab; da war ihre Rolle - oder gar nichts.

Sie machte nur wenige Ausflüge in die Welt draußen, aber eines Abends besuchte sie, um sich selbst zu beweisen, dass sie entschlossen war, Michels Flagge für ihn in die Schlacht zu tragen, wenn sie nur ein Schlachtfeld fand, eine Versammlung von Genossen in den oberen Räumen einer Kneipe bei St. Pancras. Dort saß sie mit den Total-Verrückten zusammen, von denen die meisten bereits völlig stoned waren, wenn sie dorthin kamen. Trotzdem stand sie es durch und erschreckte sowohl sich selbst als auch die Leute dort mit einer wirklich wütenden Brandrede gegen den Zionismus in all seinen faschistischen und völkermordenden Ausprägungen, die bei Vertretern der radikalen jüdischen Linken, und darüber amüsierte sich ein anderer Teil von ihr insgeheim, nervös vorwurfsvolle Reaktionen hervorrief.

Ein andermal setzte sie Quilley mit Spektakel wegen künftiger Rollen zu - was sei denn eigentlich mit den Probeaufnahmen für den Film geworden? Verdammt noch mal, Ned, ich brauche Arbeit! In Wahrheit war es jedoch so, dass ihre Begeisterung für die Kunstbühne ziemlich nachließ. Sie hatte sich ganz dem Theater der Wirklichkeit verschrieben, solange es dauerte und trotz der immer größeren Risiken.

Dann begannen die Warnungen, wie das Heulen und Knarren in der Takelage, das auf hoher See einen Sturm ankündigt.

Die erste Warnung erreichte sie ausgerechnet über den armen Ned Quilley: er rief sie viel früher am Tage, als es seine Gewohnheit war, an und wollte angeblich einen Anruf von ihr erwidern, den sie am Tag zuvor gemacht hatte. Aber sie wusste sofort, das war etwas, was Marjory ihm aufgetragen hatte, gleich zu erledigen, wenn er ins Büro kam - ehe er es vergaß, sich nicht mehr traute oder sich einen Mutmacher genehmigte. Nein, er habe nichts für sie, wolle jedoch ihren Lunch für heute absagen, sagte Quilley. Kein Problem, erwiderte sie tapfer bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen; denn dieser Lunch hatte etwas Besonderes sein sollen, bei dem sie den Abschluss ihrer Tournee feiern und sich darüber hatten unterhalten wollen, was sie als nächstes machen könne. Sie hatte sich ausgesprochen darauf gefreut, hatte gemeint, sich so etwas ruhig einmal gönnen zu können.