Cindy, dachte Charlie.
Cindy stammte aus dem Norden Englands und half nachts in der Kneipe aus. Ihr westindischer Freund saß wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis, und Charlie gab ihr gelegentlich kostenlos Gitarrenunterricht, um ihr zu helfen, die Zeit totzuschlagen. »Cind«, schrieb sie. »Hier ein Geburtstagsgeschenk für Dich, egal, wann Du Geburtstag hast. Nimm sie mit nach Hause und üb darauf, bis Du halb tot bist. Begabung hast Du, gib also nicht auf! Nimm auch die Notentasche mit. Blöderweise habe ich den Schlüssel bei meiner Mum vergessen. Wenn ich sie das nächste Mal besuche, bringe ich ihn mit. Aber für diese Lieder bist Du sowieso noch nicht weit genug. Herzlichst, Chas.«
Die Notentasche war die strapazierfähige Aktenmappe aus den 30er Jahren ihres Vaters mit stabilen Schlössern und haltbaren Nähten. Sie verstaute Michels Briefe, ihr Geld und ihren Pass sowie eine Menge Noten darin. Und trug sie zusammen mit ihrer Gitarre hinunter.
»Das hier ist alles für Cindy«, sagte sie dem Koch, der sich daraufhin vor Lachen kaum noch halten konnte und die Sachen ins Damenklo stellte, wo schon der Staubsauger und die leeren Flaschen standen.
Charlie ging wieder nach oben, knipste das Licht an, zog die Vorhänge zu und legte sich ihre Kriegsbemalung zu, denn heute war Peckham-Abend. Weder alle Bullen auf Erden noch all ihre toten Liebhaber konnten sie davon abhalten, mit ihrer Jugendgruppe die Pantomime einzuüben. Kurz nach elf war sie wieder zu Hause; der Bürgersteig gegenüber war leer, und Cindy hatte Gitarre und Notentasche mitgenommen. Sie rief Al an, weil sie plötzlich verzweifelt einen Mann brauchte. Keine Antwort. Der Scheißkerl vögelt wieder irgendwo rum. Daraufhin rief sie noch ein paar von ihren Freunden an, die sie in Reserve hielt, doch ohne Erfolg. Das Telefon klingelte so komisch, aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, konnte es auch an ihr liegen. Kurz vor dem Zubettgehen warf sie noch einmal einen Blick zum Fenster hinaus, und da hatten ihre beiden Wächter wieder auf dem Bürgersteig Stellung bezogen. Am nächsten Tag passierte gar nichts. Nur, als sie in der vagen Hoffnung, Al dort zu finden, Lucy besuchte, sagte diese ihr, Al sei wie vom Erdboden verschluckt, sie habe bereits bei der Polizei, in sämtlichen Krankenhäusern und bei allen Bekannten angerufen. »Versuch’s doch mal im Tierhort Battersea für streunende Hunde«, riet ihr Charlie. Doch als sie wieder in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt war, rief nach kurzer Zeit ihr alter schrecklicher Al an, und zwar im Zustand alkoholisierter Hysterie.
»Komm auf der Stelle her, Weib. Red nicht, sondern komm, und zwar sofort!«
Sie ging und wusste, dass es wieder so etwas war. Wusste, dass es in ihrem Leben jetzt keine Ecke mehr gab, in der nicht Gefahr lauerte.
Al war bei Willy und Pauly untergekrochen, die nun doch nicht auseinander gehen wollten. Als Charlie hinkam, stellte sie fest, dass er seinen ganzen Fan-Klub zusammengetrommelt hatte. Robert hatte eine neue Freundin mitgebracht, ein schwachsinniges Mädchen namens Samantha mit weißem Lippenstift und malvenfarbenem Haar. Doch wie üblich war es Al, der die Bühne beherrschte. »Du kannst mir erzählen, was du willst, es ist egal!« schrie er sie an, als sie hereinkam. »Jetzt haben wir die Bescherung! Das bedeutet Krieg, und zwar totalen Krieg!«
Er tobte weiter, bis Charlie ihn anschrie: »Halt jetzt endlich die Klappe und sag mir, was passiert ist.« »Was passiert ist, Mädchen? Passiert? Nichts Geringeres, als dass die Konterrevolution ihre erste Salve abgefeuert hat, und zwar auf mich alten Esel.«
»Kannst du denn nicht mal klipp und klar sagen, was geschehen ist?« schrie Charlie zurück, verlor jedoch fast den Verstand, bis sie ihm endlich die Tatsachen aus der Nase gezogen hatte. Al sei aus so einer Stammkneipe gekommen, sagte er, und da hätten diese drei Gorillas ihn angefallen. Mit einem, ja sogar mit zweien wäre er ja noch fertig geworden, aber sie waren zu dritt und außerdem knallharte Burschen, sie hätten ihn gemeinsam in die Mangel genommen. Erst als sie ihn halb kastriert in den Polizeiwagen verfrachtet hatten, war’ ihm aufgegangen, dass es sich um Bullen handelte, die ihn aufgrund irgendeiner zusammen gesponnenen Anzeige wegen unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit eingelocht hätten.
»Und weißt du, worum es ihnen wirklich ging, ja?« Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf sie. »Um dich, Mädchen! Um dich und mich und unsere Scheißpolitik, kapiert? Und ob wir wohl zufällig irgendwelche netten palästinensischen Aktivisten in unserem Freundeskreis hätten. Zwischendurch wollten sie mir weismachen, ich hätte im Klo von der Rising Sun den Pimmel rausgeholt, hätte irgendeinem reizenden Jung-Bullen einen unsittlichen Antrag und mit der rechten Hand Wichsbewegungen gemacht! Und als sie damit aufhörten, sagten sie mir, sie würden mir die Fingernägel einzeln ausreißen und mich für zehn Jahre nach Sing-Sing bringen, weil ich mit meinen schwulen Radikalenfreunden wie Willy und Pauly hier auf irgendwelchen griechischen Inseln anarchistische Umsturzpläne geschmiedet hätte. Ich meine, jetzt reicht’s, Mädchen! Das ist erst der Anfang, und wir in diesem Raum sind in vorderster Front.«
Sie hätten ihn so geohrfeigt, dass er sein eigenes Wort nicht mehr habe verstehen können, sagte er; er habe Straußeneier zwischen den Beinen, und sieh dir mal diese Schramme hier am Arm an! Vierundzwanzig Stunden lang hätten sie ihn eingebuchtet gehalten und sechs Stunden davon ausgequetscht. Sie hätten ihm angeboten zu telefonieren, aber kein Kleingeld gegeben, und als er das Telefonbuch verlangt habe, sei das verloren gegangen gewesen, und so habe er nicht mal seinen Agenten anrufen können. Dann hätten sie aus unerfindlichen Gründen die Anklage wegen unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit fallenlassen und ihn auf Kaution freigelassen.
Unter den Anwesenden befand sich auch ein junger Mann namens Matthew, ein Buchhalterlehrling mit weichem Kinn, der hier nach den Alternativen des Lebens Ausschau hielt; und er hatte eine Wohnung. Zu seiner Überraschung ging Charlie mit ihm hin und schlief mit ihm. Für den nächsten Tag waren keine Proben angesetzt, und sie hatte vorgehabt, ihre Mutter zu besuchen, doch als sie gegen Mittag in Matthews Bett aufwachte, hatte sie einfach nicht den Mumm hinzufahren, und so rief sie sie an und sagte ab, und das schmiss wahrscheinlich die Polizei restlos, denn als sie am Abend vor der Goanesischen Kneipe ankam, standen schon ein Mannschaftswagen am Bürgersteig und ein uniformierter Wachtmeister in der offenen Tür und neben ihm der Koch, der sie mit asiatischer Verlegenheit angrinste.
Es ist soweit, dachte sie ruhig. Wird auch allerhöchste Zeit. Endlich haben sie sich aus dem Dickicht hervorgewagt. Der Wachtmeister war der Zornige-Augen-kurz-geschorenes-Haar-Typ, der einen Rochus auf die ganze Welt hat, aber auf Inder und hübsche Mädchen ganz besonders. Vielleicht war es sein Hass, der ihn in diesem entscheidenden Augenblick des Dramas dafür blind machte, wer Charlie sein könnte.
»Die Kneipe ist vorübergehend geschlossen«, fauchte er sie an. »Suchen Sie sich was anderes.«
Trauer ruft besondere Reaktionen hervor. »Ist jemand gestorben?« fragte sie ängstlich.
»Wenn ja - mir hat man jedenfalls nichts davon gesagt. Eine verdächtige Person ist beobachtet worden, die vermutlich einbrechen wollte. Meine Beamten gehen der Sache gerade nach. Und jetzt weiter!« Vielleicht hatte er schon zu lange Dienst und war müde. Vielleicht wusste er auch nicht, wie schnell ein impulsives Mädchen denken und sich ducken kann. Jedenfalls schoss sie unter seinen Augen in die Kneipe und knallte im Laufen die Tür hinter sich ins Schloss. Das Lokal war leer, die Geräte waren ausgeschaltet. Ihre Wohnungstür war geschlossen, doch hörte sie dahinter das Gemurmel von Männerstimmen. Unten schrie der Wachtmeister und hämmerte gegen die Tür. Sie hörte: »Sie! Lassen Sie das. Kommen Sie raus!« Aber nur ganz leise. Sie dachte: Schlüssel, und machte die Handtasche auf. Sah das weiße Kopftuch und setzte das statt dessen auf, ein fliegender Kostümwechsel zwischen zwei Szenen. Dann klingelte sie, zweimal und sehr zuversichtlich. Und hob dann die Klappe ihres Briefschlitzes in die Höhe.