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»Chas? Bist du da? Ich bin’s, Sandy.«

Totenstille plötzlich, dann Schritte und ein geflüstertes: »Harry, schnell!« Die Tür ging zögernd auf, und sie starrte einem grauhaarigen, wilden kleinen Mann in grauem Anzug in die Augen. Hinter ihm sah sie überall verstreut die Reste dessen, was ihr von Michel geblieben war, ihr Bett war hochkam gestellt, die Poster von den Wänden genommen, der Teppich aufgerollt und die Dielenbretter geöffnet. Sie sah eine nach unten gerichtete Kamera auf einem Stativ und einen zweiten Mann, der durch den Sucher spähte, darunter waren etliche von den Briefen ihrer Mutter ausgebreitet. Sie sah Meißel und Zangen, und ihr Möchtegern-Aufreißer mit der Omabrille aus dem Kino, der zwischen einem Haufen ihrer teuren neuen Kleider kniete, und sie erkannte auf einen Blick, dass sie nicht in die Untersuchung hineingeplatzt war, sondern in den Einbruch.

»Ich suche meine Schwester Charmian«, sagte sie. »Wer um alles auf der Welt sind Sie?« »Sie ist nicht hier«, erwiderte der Grauhaarige, und Charlie bekam eine Spur Waliser Akzent mit und bemerkte Kratzspuren an seinem Kinn.

Während er sie noch immer anblickte, hob er die Stimme und bellte fast: »Sergeant Mallis! Sergeant Mallis, schaffen Sie die Dame hier raus, und nehmen Sie ihre Personalien auf.« Die Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen. Von unten hörte sie den glücklosen Sergeant immer noch lauthals schreien. Leise stieg sie die Treppe hinunter, ging aber nur bis zur Mute des Hausflurs. Dort zwängte sie sich zwischen Haufen von Pappkartons zur Hoftür durch, die zwar verriegelt, aber nicht abgeschlossen war. Der Hof führte auf einen Garagenplatz und der Garagenplatz auf die Straße, in der Miss Dubber wohnte. Als sie an deren Fenster vorüberkam, klopfte Charlie dagegen und winkte ihr fröhlich zu. Wie sie das schaffte, woher sie ihre Geistesgegenwart hatte, sollte sie nie erfahren. Sie ging weiter, und keine Schritte oder wütenden Stimmen folgten ihr, kein Auto hielt mit quietschenden Bremsen neben ihr. Sie erreichte die Hauptstraße, und irgendwo unterwegs streifte sie einen Lederhandschuh über; wie Joseph ihr gesagt hatte, sollte sie das tun, falls und wenn sie sie jagten. Sie sah ein leeres Taxi und winkte es heran. Nun, dachte sie erheitert, da wären wir alle. Erst viel, viel später in einem ihrer vielen Leben kam ihr der Gedanke, dass sie sie möglicherweise absichtlich hatten laufen lassen. Joseph hatte erklärt, auf ihren Fiat dürfe sie auf gar keinen Fall zurückgreifen, und widerstrebend sah sie ein, dass er recht hatte. So bewegte sie sich etappenweise weiter und überstürzte nichts. Das redete sie sich selbst ein. Nach dem Taxi nehmen wir einen Bus, sagte sie sich, gehen ein Stück zu Fuß und fahren dann mit der U-Bahn. In ihrem Kopf war alles glasklar, nur musste sie ihre Gedanken hintereinander kriegen; ihre Heiterkeit hatte sich nicht gelegt; sie wusste, dass sie sich ihrer Reaktionen ganz sicher sein musste, ehe sie ihren nächsten Schritt machte, denn wenn sie dies jetzt verpatzte, verpatzte sie alles. Joseph hatte ihr das gesagt, und sie glaubte ihm. Ich bin auf der Flucht. Sie sind hinter mir her. Himmel, Helg, was mach’ ich nur?

Diese Nummer dürfen Sie nur im äußersten Notfall anrufen, Charlie. Wenn Sie anrufen, und es war gar nicht unbedingt nötig, werde ich sehr böse, hören Sie?

Ja, Helg, ich hab’ verstanden.

Sie saß in einem Pub, trank einen von Michels Wodkas und rief sich den Rest jenes kostenlosen Rats ins Gedächtnis, den Helga ihr gegeben hatte, als Mesterbein draußen im Auto gehockt hatte. Überzeuge dich, dass niemand dir folgt. Benutze nicht das Telefon von Freunden oder von deiner Familie. Und ruf auch nicht von der Telefonzelle an der Ecke an oder von der Zelle auf der anderen Straßenseite oder von der weiter unten an der Straße oder weiter oben an der Straße, wo du wohnst.

Niemals, hören Sie? Die sind alle außerordentlich gefährlich. Die Bullen können eine Leitung in Null Komma nichts anzapfen, da können Sie ganz sicher sein. Und niemals dasselbe Telefon zweimal benutzen. Hören Sie, Charlie?/p>

Ja, Helg, ich höre dich sehr gut.

Sie trat auf die Straße hinaus und sah einen Mann, der in ein unbeleuchtetes Schaufenster starrte, während ein zweiter sich von ihm entfernte und auf ein Auto mit Antenne zuging. Jetzt hatte der Schrecken sie gepackt, und es war so schlimm, dass sie sich am liebsten wimmernd aufs Pflaster gelegt, alles gestanden und die Welt gebeten hätte, sie in Gnaden wieder aufzunehmen. Die Leute vor ihr waren genauso bedrohlich wie die Leute hinter ihr, die gespenstischen Linien des Bordsteins führten zu irgendeinem schrecklichen, verschwindenden Punkt, der ihr eigener Untergang war. Helga, flehte sie; ach, Helga, hol mich hier raus! Sie nahm einen Bus, der in die falsche Richtung fuhr, wartete, nahm einen anderen und ging wieder zu Fuß weiter, mied jedoch die U-Bahn, weil der Gedanke, irgendwo unter der Erde zu sein, ihr Angst machte. Folglich wurde sie schwach, nahm sich wieder ein Taxi und schaute zum Rückfenster hinaus. Niemand folgte ihr. Die Straße war leer. Zum Teufel mit dem Zu-Fuß-Gehen, zum Teufel mit der U-Bahn und mit den Bussen.

»Nach Peckham«, sagte sie zu dem Fahrer und fuhr großartig vor. Der Saal, in dem sie probten, lag hinter einer Kirche, ein scheunenartiges Ding neben einem Abenteuerspielplatz, auf dem die Kinder schon vor langer Zeit alles kurz und klein geschlagen hatten. Um dort hinzukommen, musste sie an einer Reihe von Eiben entlanggehen. Nirgends war Licht, doch sie drückte wegen Lofty auf die Klingel. Lofty, ein ehemaliger Boxer, war der Nachtwächter, der seit den Geldkürzungen jedoch höchstens dreimal in der Woche kam. Ihr fiel ein Stein von der Seele, als sich auf ihr Klingeln hin keine Schritte vernehmen ließen. So schloss sie auf und trat ein. Die kalte abgestandene Luft erinnerte sie an die Kirche in Cornwall, die sie betreten hatte, nachdem sie ihr Gebinde auf das Grab des unbekannten Revolutionärs gelegt hatte. Sie zog die Tür hinter sich zu und riss ein Streichholz an. Das Flämmchen spiegelte sich flackernd in den glänzenden grünen Kacheln und dem hohen Gewölbe der viktorianischen Deckenkonstruktion aus Fichtenholz. Um sich bei Laune zu halten, rief sie lustig »Loftiii«. Das Streichholz ging aus, doch sie fand die Kette an der Tür und ließ sie in der Gleitschiene einrasten, ehe sie ein neues Streichholz anzündete. Ihre Stimme, ihre Schritte und das Gerassel der Kette hallten in dem pechdunklen Raum noch stundenlang wie verrückt wider.

Sie dachte an Fledermäuse und andere Widerwärtigkeiten; daran, dass ihr Tang übers Gesicht gezogen wurde. Eine Treppe mit eisernem Handlauf führte auf eine hölzerne Empore hinauf, die schönfärberisch »Gemeinschaftsraum« genannt wurde und die sie seit ihrem heimlichen Besuch in der Münchener Atelierwohnung an Michel erinnerte. Sie griff nach dem Geländer und ging daran nach oben, stand dann regungslos auf der Empore, starrte hinunter ins Dunkel des Saals und horchte, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Sie erkannte die Bühne, dann die wallenden psychedelischen Wolken, die den Hintergrund ihres Bühnenbilds bildeten, dann die Tragebalken und das Dach. Sie entdeckte den silbernen Schimmer ihres einzigen Scheinwerfers, ein umgebauter Autoscheinwerfer, den ein Junge namens Gums von den Bahamas auf einem Autofriedhof geklaut hatte. Auf der Empore stand ein altes Sofa und daneben ein Tisch mit einer hellen Plastikplatte, in der sich der durch das Fenster hereinfallende Helligkeitsschimmer der Stadt fing. Auf dem Tisch stand ein schwarzes, ausschließlich für den dienstlichen Gebrauch bestimmtes Telefon, und daneben lag das Schulheft, in das man Privatgespräche eintragen sollte, über die mindestens sechsmal jeden Monat großes Geschrei angestimmt wurde. Charlie saß auf dem Sofa und wartete, bis ihr Magen sich entkrampft und ihr Pulsschlag unter die Dreihundertgrenze gerutscht war. Dann hob sie das Telefon samt Hörer vom Tisch herunter und stellte es auf den Boden. In der Tischschublade waren immer ein paar Haushaltskerzen gewesen, falls die Beleuchtung mal ausfiel, was häufig der Fall war, aber jemand hatte auch die mitgehen lassen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Seite eines alten Gemeindeblättchens zu einem Fidibus zusammenzudrehen, und nachdem sie ihn in eine schmutzige Teetasse gesteckt hatte, zündete sie ein Ende an, um ein Licht zu bekommen. Mit dem Tisch darüber und der Balustrade der Empore daneben war die Flamme so wenig zu sehen, wie es nur irgend ging. Trotzdem blies sie sie aus, sobald sie gewählt hatte. Sie musste fünfzehn Zahlen wählen, und beim ersten Mal gab das Telefon nur einen Misston von sich. Beim zweiten Mal verwählte sie sich und bekam irgendeinen Italiener an die Strippe, der sie wüst beschimpfte. Beim dritten Mal rutschte ihr die Fingerspitze ab, aber beim vierten Versuch kam ein gedankenvolles Schweigen, dem das Klingeln eines Anschlusses auf dem Festland folgte. Viel später folgte die schrille, deutsch sprechende Stimme von Helga.