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»Hier spricht Johanna«, sagte Charlie. »Wissen Sie noch?« -Wieder gedankenvolles Schweigen. »Wo sind Sie, Johanna?«

»Kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Dreck.« »Haben Sie Probleme, Johanna?«

»Eigentlich nicht. Ich wollt’ bloß danke schön sagen, dass Sie mir die Bullen auf den Hals gehetzt haben.«

Dann packte sie, das muss zu ihrem Ruhm gesagt werden, die alte Wahnsinnswut, und sie ließ ihr mit einer Hemmungslosigkeit freien Lauf, wie sie sie seit jenem Tag, an den sie sich nicht erinnern durfte, nicht mehr hatte aufbringen können, als Joseph sie einen Blick auf ihren jungen Liebhaber hatte werfen lassen, ehe sie ihn in die Luft hatten gehen lassen. Schweigend hörte Helga sie bis zu Ende an. »Wo sind Sie?« sagte sie, als Charlie fertig zu sein schien. Sie sprach mit größter Zurückhaltung, als verstoße sie gegen ihre eigenen Regeln.

»Vergessen Sie’s«, sagte Charlie.

»Kann man Sie irgendwo erreichen? Sagen Sie mir, wo sie die nächsten achtundvierzig Stunden sind.«

»Nein.«

»Könnten Sie mich bitte in einer Stunde noch mal anrufen?«

»Kann ich nicht.«

Langes Schweigen. »Wo sind die Briefe?«

»In Sicherheit.«

Nochmals Schweigen. »Nehmen Sie Bleistift und Papier.«

»Brauche ich nicht.«

»Trotzdem. Sie sind nicht in der Verfassung, um etwas genau behalten zu können. Fertig?«

Keine Adresse, und auch keine Telefonnummer. Dafür Straßenangaben, eine Zeit und genaue Anweisungen, wie sie zu dem Treffpunkt kommen sollte. »Tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Wenn Sie es nicht schaffen, wenn Sie noch mehr Schwierigkeiten haben, rufen Sie die Nummer an, die auf Antons Visitenkarte steht, und sagen Sie, Sie wollten sich mit Petra in Verbindung setzen. Bringen Sie die Briefe mit. Hören Sie mich? Petra, und die Briefe mitbringen! Wenn Sie die Briefe nicht mitbringen, werden wir sehr, sehr böse auf Sie sein.«

Als Charlie auflegte, hörte sie, wie unten im Zuschauerraum ein einzelnes Paar Hände leise Beifall klatschte. Sie trat an die Balustrade, blickte hinunter und sah zu ihrer unsagbaren Wonne Joseph ganz allein in der Mitte der ersten Reihe sitzen. Sie machte kehrt und flog die Treppe zu ihm hinunter. Als sie die unterste Stufe erreichte, erwartete er sie mit ausgebreiteten Armen. Er hatte Angst, dass sie in der Dunkelheit ausrutschen könnte. Er küsste sie und hörte nicht auf, sie zu küssen; dann führte er sie wieder auf die Empore hinauf, hielt auch an der schmälsten Stelle der Treppe noch den Arm um sie gelegt, in der anderen Hand trug er einen Korb. Er hatte Räucherlachs und eine Flasche Wein mitgebracht, hatte alles unausgepackt auf den Tisch gestellt. Er wusste, wo die Teller unter dem Ausguss standen und wie man den Heizofen an die Extrasteckdose des Herds anschloss. Er hatte eine Thermosflasche mit Kaffee und ein paar ziemlich vergammelte Wolldecken aus Loftys Höhle unten heraufgebracht. Er stellte die Thermosflasche mit den Tellern hin und ging dann herum, um die großen viktorianischen Türen zu überprüfen und von innen zu verriegeln. Selbst in dem dämmerigen Licht erkannte sie - sah es an der Haltung seines Rückens und seinen bewusst vertraulichen Bewegungen -, dass er etwas tat, was nicht im Rollenbuch stand, er verschloss die Türen vor allem, was nicht in ihre Welt gehörte. Er setzte sich neben sie aufs Sofa und legte eine Wolldecke um sie, denn gegen die Kälte im Saal musste man wirklich etwas unternehmen genauso wie gegen ihr Zittern, mit dem sie nicht aufhören konnte. Der Anruf bei Helga hatte sie vor Angst ganz krank gemacht wie die Scharfrichteraugen des Polizisten in ihrer Wohnung, wie die sich häufenden Tage des Wartens und nur halb Wissens, was viel, viel schlimmer war, als überhaupt nichts zu wissen.

Das einzige Licht kam von dem Heizofen und beleuchtete sein Gesicht von unten wie ein bleiches Rampenlicht aus jener Zeit, als man im Theater noch diese Beleuchtung verwendete. Sie erinnerte sich daran, dass er ihr in Griechenland erzählt hatte, die antiken Stätten anzustrahlen, sei ein Akt des modernen Vandalismus; die Tempel seien gebaut worden, um mit der Sonne über ihnen und nicht unter ihnen gesehen zu werden. Er hatte ihr unter der Decke den Arm um die Schultern gelegt, und ihr fiel auf, wie dünn sie neben ihm war.

»Ich habe abgenommen«, sagte sie, und das war so etwas wie eine Warnung an ihn.

Er antwortete nicht, hielt sie aber fester, um ihr Zittern zu bezwingen, es in sich aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. Ihr ging durch den Kopf, dass sie trotz all seiner Ausflüchte und Verkleidungen im Grunde immer gewusst hatte, dass er ein gütiger Mann war, der instinktiv für jeden Sympathie übrig hatte, in der Schlacht wie im Frieden ein bekümmerter Mann, der es hasste, Schmerz zuzufügen. Sie legte ihm die Hand ans Gesicht und spürte erfreut, dass er sich nicht rasiert hatte, denn heute Abend wollte sie nicht daran denken, dass er etwas aus Berechnung tat, obwohl es nicht ihre erste Nacht war, aber auch noch nicht ihre fünfzigste - sie waren ein altes rasendes Liebespaar, das die Hälfte der Motels Englands hinter sich hatte, außerdem Griechenland und Salzburg und Gott weiß wie viel andere Leben noch; denn plötzlich war ihr klar, dass die ganze Fiktion, die sie gemeinsam durchlebt hatten, nichts war als das Vorspiel für diese Nacht der Tatsachen.

Er nahm ihre Hand weg, zog Charlie an sich und küsste sie auf den Mund, und sie reagierte keusch und wartete darauf, dass er die Leidenschaften in ihr entzündete, von denen sie so oft gesprochen hatten. Sie liebte seine Handgelenke, seine Hände. Nie waren Hände so wissend gewesen. Er berührte ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Brüste, und sie hielt sich zurück, küsste ihn nicht, weil sie eines nach dem anderen genießen wollte: Jetzt küsst er mich, jetzt berührt er mich, zieht er mich aus, er liegt in meinen Armen, wir sind nackt, wir liegen wieder am Strand, auf dem kratzenden Sand von Mykonos, wir sind barbarisch verschandelte Bauten, und die Sonne versengt uns von unten. Er lachte, rollte von ihr weg und zog den Elektroofen zurück. Und bei all ihren Liebeserfahrungen hatte sie nie etwas so Schönes gesehen wie seinen über die rote Glut gebeugten Körper, das Feuer war da am hellsten, wo sein eigener Körper brannte. Er kehrte zu ihr zurück, kniete neben ihr nieder und fing noch einmal von vorn an, für den Fall, dass sie die Geschichte bis zu diesem Punkt vergessen hatte, und küsste und berührte alles mit einem sanften Inbesitznehmen, das nach und nach alle Scheu verlor, aber er kehrte immer wieder zu ihrem Gesicht zurück, denn es war ihnen beiden ein Bedürfnis, sich immer wieder zu sehen und zu schmecken und zu versichern, dass sie wirklich die waren, die zu sein sie behaupteten. Schon lange ehe er in sie eindrang, war er der beste, der einzige, unvergleichliche Liebhaber, den sie nie gehabt hatte, der ferne Stern, dem sie durch dieses verkommene Land gefolgt war. Wäre sie blind gewesen, sie hätte es an seiner Berührung erkannt; hätte sie im Sterben gelegen, an seinem traurigen Siegerlächeln, das Schrecken und Ungläubigkeit besiegte, weil es dort vor ihr war; an seiner instinktiven Kraft, sie zu kennen und ihr Wissen zu vertiefen.