Als sie aufwachte, saß er beschützend bei ihr und wartete darauf, dass sie zu sich kam. Er hatte alles fortgepackt. »Es ist ein Junge«, sagte er und lächelte.
»Es sind Zwillinge«, erwiderte sie, zog seinen Kopf herunter, bis er an ihrer Schulter ruhte. Er wollte etwas sagen, doch sie unterbrach ihn streng, warnend. »Ich möchte nicht, dass du aus der Schule plauderst«, sagte sie. »Keine Tarngeschichten, keine Entschuldigungen, keine Lügen. Wenn es zum Dienst gehört, sag’s mir nicht. Wie spät ist es?«
»Mitternacht.«
»Dann komm wieder ins Bett.«
»Marty möchte mir dir reden«, sagte er.
Aber etwas in seiner Stimme und der Art und Weise, wie er es sagte, verrieten ihr, dass dies nicht auf Marty, sondern auf ihn zurückging.
Es war Josephs Wohnung.
Das wusste sie, sobald sie eingetreten war: eine rechteckige kleine Gelehrtenklause zu ebener Erde irgendwo in Bloomsbury, mit Spitzengardinen und Platz nur für einen kleinen Bewohner. An einer Wand hingen Pläne der Londoner Innenstadt; an der anderen stand ein Sideboard mit zwei Telefonen. Ein unbenutztes Klappbett nahm eine dritte Wand ein, und an der vierten stand ein Kiefernholzschreibtisch mit einer alten Lampe darauf. Neben den Telefonen blubberte eine Kaffeemaschine, und im Kamin brannte ein Feuer. Marty stand nicht auf, als sie hereinkam, sondern wandte den Kopf zu ihr um und schenkte ihr das herzlichste und schönste Lächeln, mit dem er sie je bedacht hatte, doch vielleicht meinte sie das auch nur, weil sie selbst die Welt so freundlich sah. Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie beugte sich über ihn und ließ sich ausgiebig väterlich von ihm umarmen: meine Tochter, von ihren Reisen zurück. Sie saß ihm gegenüber, während Joseph im Schneidersitz auf den Boden hockte wie ein Araber, so, wie er auf der Hügelkuppe gesessen hatte, als er sie zu sich heruntergezogen und ihr einen Vortrag über die Pistole gehalten hatte. »Wollen Sie sich mal selbst hören?« lud Kurtz sie ein und zeigte auf ein neben ihm stehendes Bandgerät. Sie schüttelte den Kopf. »Charlie, Sie waren hinreißend. Nicht die Drittbeste und auch nicht die Zweitbeste, sondern ganz unbestreitbar die Beste, die es je gab.« »Er schmeichelt dir«, warnte Joseph sie, aber er meinte das nicht komisch.
Eine kleine braungekleidete Dame kam, ohne anzuklopfen, herein, und es ging darum, wer Zucker nahm und wer nicht.
»Charlie, es steht Ihnen frei auszusteigen«, sagte Kurtz, nachdem sie wieder gegangen war. »Joseph besteht darauf, dass ich Sie laut und deutlich darauf hinweise. Gehen Sie jetzt, und Sie gehen mit Ehren. Stimmt’s, Joseph? Viel Geld und viel Ehr’. Alles, was wir Ihnen versprochen haben, und noch mehr.« »Ich hab’s ihr schon gesagt«, erklärte Joseph. Sie sah, dass Kurtz’ Lächeln breiter wurde, um seine Verwirrung zu verbergen. »Natürlich hast du es ihr gesagt, Joseph, aber jetzt sage ich es ihr noch mal. Möchtest du nicht, dass ich das tu’? Charlie, Sie haben für uns den Deckel einer Büchse voller Würmer gelüftet, hinter denen wir schon seit langer Zeit her sind. Sie haben mehr Namen und Orte und Verbindungen für uns aufgedeckt, als Sie wissen, und es werden sich noch mehr daraus ergeben, ob Sie nun weitermachen oder nicht. In Ihrer näheren Umgebung sind Sie immer noch sauber, und wenn irgendwo Dreck ist - nun, geben Sie uns ein paar Monate Zeit, und wir bereinigen das für Sie. Wir ziehen Sie eine Zeitlang aus dem Verkehr, damit die Dinge sich abkühlen. Nehmen Sie einen Freund oder eine Freundin mit - wenn Sie das möchten, Sie haben ein Recht darauf, es zu tun.«
»Er meint es ernst«, sagte Joseph. »Sag nicht einfach, du machst weiter. Überleg es dir genau!« Wieder fiel ihr eine gewisse Gereiztheit an Martys Stimme auf, als er sich an seinen Untergebenen wandte:
»Selbstverständlich meine ich es ernst, und wenn ich es nicht ernst meinte - dies wäre der letzte Augenblick auf Erden, damit zu liebäugeln, es nicht ernst zu meinen«, sagte er und schaffte es am Ende noch, seine scharfe Erwiderung in einen Witz zu verwandeln.
»Wo stehen wir denn?« fragte Charlie. »Was ist es denn für ein Augenblick?«
Joseph wollte etwas sagen, doch Marty fiel ihm wie einem schlechten Autofahrer ins Steuer. »Charlie, in dieser Sache gibt es ein Oben und ein Unten. Bis jetzt haben Sie sich oben bewegt, es aber trotzdem fertig gebracht, uns zu zeigen, was weiter unten vorgeht. Aber von jetzt an - nun, könnte alles ein wenig anders laufen. So sehen wir das jedenfalls. Könnte sein, dass wir uns irren, aber zumindest deuten wir die Zeichen so.« »Er meint damit, dass du bis jetzt in Freundesland gewesen bist. Wir haben in deiner Nähe sein können, wir hätten dich herausholen können, falls das nötig gewesen wäre. Doch damit ist es jetzt vorbei. Du wirst eine der ihren sein. Teilst ihr Leben. Ihre Denkweise, ihre Verhaltensnormen. Könnte sein, dass du wochen-, ja monatelang ganz auf dich allein gestellt bist.«
»Vielleicht nicht völlig auf dich allein gestellt, aber du könntest uns nicht erreichen, das stimmt wohl im großen und ganzen«, räumte Marty ein. Er lächelte, doch er lächelte nicht Joseph an. »Aber wir werden in der Nähe sein, Sie können auf uns zählen.«
»Zu welchem Zweck?« fragte Charlie.
Marty schien vorübergehend verwirrt. »Was für ein Zweck, meine Liebe - der Zweck, der diese Mittel heiligt? Ich glaube, ich habe nicht richtig verstanden, was Sie meinen.«
»Wonach soll ich suchen? Wann werden Sie zufrieden sein?«
»Charlie, wir sind schon jetzt mehr als zufrieden«, sagte Marty liebenswürdig, und sie wusste, dass er Ausflüchte machte. »Das, worum es uns geht, ist ein Mann«, sagte Joseph unvermittelt, und sie sah, wie Martys Kopf zu ihm herumfuhr, bis sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Aber Josephs Gesicht konnte sie sehen, und sein eindringlicher Blick, mit dem er Martys begegnete, war von einer trotzigen Offenheit, die sie bisher noch nicht bei ihm erlebt hatte.
»Charlie, unser Ziel ist ein Mann«, gab Marty schließlich zu und wandte sich wieder ihr zu. »Wenn Sie weitermachen, müssen Sie sich darüber im klaren sein.«
»Khalil«, sagte sie.
»Richtig, Khalil«, sagte Marty. »Khalil steht an der Spitze ihrer ganzen europäischen Organisation. Er ist der Mann, den wir haben müssen.«
»Er ist gefährlich«, sagte Joseph. »Er ist so gut, wie Michel schlecht war.«
Vielleicht um ihn auszumanövrieren, knüpfte Kurtz an diesen Gedanken an. »Khalil hat keinen Menschen, auf den er sich verlässt, keine feste Freundin. Er schläft niemals zwei Nächte hintereinander im selben Bett. Er hat sich von den Menschen gelöst, hat seine Grundbedürfnisse auf ein Minimum beschränkt, so dass er fast unabhängig ist. Ein Mann, der außerordentlich, klug vorgeht«, schloss Kurtz und bedachte sie mit einem besonders nachsichtigen Lächeln. Doch als er sich eine neue Zigarre anzündete, erkannte sie am Zittern des Streichholzes, dass er sehr ärgerlich war. Warum schwankte sie nicht?
Eine ungewöhnliche Ruhe hatte sich ihrer bemächtigt, eine Klarheit - des Gefühls, wie sie sie bisher noch nie erlebt hatte. Joseph hatte nicht mir ihr geschlafen, um sie fortzuschicken, sondern um sie zurückzuhalten. Er durchlitt für sie all die Ängste und Befürchtungen, die eigentlich sie haben sollte. Trotzdem wusste sie, dass in diesem geheimen Mikrokosmos, bei dieser Existenz, die sie für sie geschaffen hatten, jetzt einen Rückzieher zu machen, bedeutete, für immer auszusteigen; dass eine Liebe, die sich nicht weiterentwickelte, sich niemals erneuern konnte; sie konnte nur in die Grube der Mittelmäßigkeit stürzen, der auch Charlies andere Lieben ausgeliefert waren, seitdem sie ihr Leben mit Joseph begonnen hatte. Die Tatsache, dass er wollte, dass sie aufhörte, hielt sie nicht zurück; im Gegenteil, sie bestärkte sie in ihrem Entschluss. Sie waren Partner. Sie waren ein Liebespaar. Sie waren einem gemeinsamen Schicksal, gemeinsamem Vorwärtsgehen verbunden.