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Die Dunkelheit erboste sie nachgerade. Wenn sie mich einsperren, dann gnade mir Gott - Klaustrophobie ist das Schlimmste bei mir. Im Geist sagte sie sich eine Stelle aus einem Gedicht von T.S. Eliot auf, etwas, das sie in der Schule in dem Jahr gelernt hatte, als sie geflogen war: darüber, dass die gegenwärtige Zeit und die vergangene Zeit in der zukünftigen Zeit enthalten seien. Darüber, dass alle Zeit ewig gegenwärtig sei. Sie hatte das damals nicht verstanden und verstand es auch jetzt nicht. Gott sei Dank, dass ich Whisper nicht genommen habe, dachte sie. Whisper war ein ulkiger schwarzer Jagdhund, der auf der Straßenseite gegenüber von ihr wohnte und dessen Besitzer ins Ausland gehen wollten. Sie stellte sich vor, Whisper sitze neben ihr und habe auch eine schwarze Brille auf.

»Sie sagen uns die Wahrheit, wir lassen Sie am Leben«, sagte eine Männerstimme leise. Es war Michel! Fast. Michel, lebt fast wieder! Es war Michels Akzent, Michels schöner Sprachrhythmus, Michels volltönende, träge Stimme, die kehlige Aussprache.

»Sie sagen uns alles, was Sie ihnen gesagt haben, was Sie schon für sie getan haben, wie viel sie Ihnen bezahlen, und es ist okay. Wir verstehen es. Wir lassen Sie laufen.«

»Halten Sie den Kopf still«, fuhr Helga sie von hinten an. »Wir glauben nicht, dass Sie ihn verraten haben - was man normalerweise unter Verrat versteht, okay? Sie haben es mit der Angst bekommen, haben sich zu sehr eingelassen, also gehen Sie jetzt auf sie ein und tun, was sie von Ihnen verlangen. Okay, das ist natürlich. Wir sind keine Unmenschen. Wir bringen Sie hier raus, lassen Sie irgendwo am Rande der Stadt frei, und Sie erzählen ihnen alles, was hier mit Ihnen passiert ist. Auch dagegen haben wir nichts. Solange Sie alles sagen.«

Er seufzte, als würde das Leben für ihn zur Last. »Vielleicht sind Sie irgendeinem netten Polizisten hörig geworden, ja? Sie tun ihm einen Gefallen. Für so was haben wir Verständnis. Wir sind unserer Sache verpflichtet, aber wir sind keine Psychopathen. Ja?«

Helga war ärgerlich. »Verstehen Sie ihn, Charlie? Antworten Sie, oder Sie werden bestraft.« Sie antwortete absichtlich nicht.

»Wann sind Sie zum ersten Mal zu ihnen gegangen? Sagen Sie es mir! Nach Nottingham? York? Es spielt keine Rolle. Sie sind zu ihnen gegangen. Einverstanden. Sie bekamen es mit der Angst, Sie sind zur Polizei gelaufen. ›Dieser verrückte Araber versucht, mich als Terroristin anzuwerben. Retten Sie mich, ich tu’ alles, was Sie sagen.‹ War es so? Hören Sie, wenn Sie wieder zu ihnen gehen, macht es immer noch nichts. Sagen Sie ihnen, was für eine große Heldin Sie sind. Wir versorgen Sie mit ein paar Informationen, die Sie ihnen geben können; das gibt Ihnen ein gutes Gefühl. Wir sind nette Leute. Vernünftig. Okay, kommen wir zur Sache. Machen wir uns doch nichts vor. Sie sind ein nettes Mädchen, aber das hier ist nicht Ihre Schuhgröße. Fangen wir an.«

Sie war ruhig. Eine tiefe Mattigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, die Folge der Isolierung und der Blindheit. Sie war sicher, sie war im Schoß geborgen, um wieder neu anzufangen oder um friedlich zu sterben, wie es der Natur gefiel. Sie schlief den Schlaf der Kindheit oder des Alters. Ihr Schweigen verzauberte sie. Es war das Schweigen der vollkommenen Freiheit. Sie warteten auf sie - zwar konnte sie spüren, wie ungeduldig sie waren, aber es hatte keinen Sinn, gleichfalls ungeduldig zu sein. Mehrmals war sie so weit, sich zu überlegen, was sie sagen könnte, aber ihre Stimme war sehr weit von ihr entfernt, und es schien keinen Sinn zu haben, sie zu holen. Helga sagte etwas auf deutsch, und obwohl Charlie kein Wort davon verstand, erkannte sie klar und deutlich, als wäre es ihre eigene Sprache, den Klang betroffener Resignation. Der dicke Mann antwortete und schien genauso perplex, aber nicht feindselig. Vielleicht - vielleicht nicht, schien er zu sagen. Sie hatte den Eindruck, als ob die beiden jede Verantwortung für sie von sich wiesen, während sie sie sich gegenseitig immer wieder zuschoben: ein bürokratisches Gerangel. Der Italiener mischte sich ein, doch Helga sagte ihm, er solle den Mund halten. Die Diskussion zwischen dem dicken Mann und Helga wurde wieder aufgenommen, und sie bekam das Wort logisch mit. Helga ist logisch. Oder Charlie ist es nicht. Oder dem dicken Mann wird gesagt, er solle es sein. Dann sagte der dicke Mann: »Wo haben Sie die Nacht verbracht, nachdem Sie Helga angerufen haben?« »Bei einem Liebhaber.« »Und die letzte Nacht?«

»Bei einem Liebhaber.«

»Einem anderen?«

»Ja, aber es waren beides Polizisten.«

Sie vermutete, dass Helga sie geschlagen hätte, wenn sie keine Brille aufgehabt hätte. Helga fuhr auf sie los, und ihre Stimme krächzte vor Wut, als sie einen Schwall von Befehlen auf sie niederprasseln ließ - sie solle nicht unverschämt sein, nicht lügen, auf alles sofort antworten und nicht sarkastisch werden. Wieder begannen die Fragen, und sie antwortete ermattet, ließ sich die Antworten Satz für Satz aus der Nase ziehen, denn letztlich ging es diese Leute überhaupt nichts an. Welche Zimmernummer in Nottingham? In Saloniki, welches Hotel? Waren sie schwimmen gewesen? Um welche Zeit waren sie angekommen, was hatten sie gegessen; was für Getränke hatten sie sich aufs Zimmer bringen lassen? Doch allmählich, als sie erst sich selbst und dann ihnen zuhörte, wurde ihr klar, dass sie, zumindest bis jetzt, gewonnen hatte - obwohl sie sie zwangen, die Sonnenbrille zu tragen, als sie ging, und sie aufzubehalten, bis sie sie ein beträchtliches Stück von dem Haus fortgebracht hatten.

Kapitel 21

Bei ihrer Landung in Beirut regnete es, und sie wusste, dass es ein heißer Regen war, denn die Hitze, die von ihm ausging, drang in die Kabine, als sie noch kreisten, und ihre Kopfhaut juckte wieder von dem Färbemittel, mit dem sie auf Helgas Anweisung ihr Haar hatte behandeln müssen. Sie setzten über einer Wolke zur Landung an, die unter den Scheinwerfern der Maschine wie rot aufleuchtende Felsen aussah. Die Wolke hörte auf, sie flogen niedrig übers Meer, rasten auf die näher kommenden Berge zu, als sollten sie daran zerschellen. Sie hatte einen wiederkehrenden Alptraum, bei dem es genauso war, nur dass ihr Flugzeug eine von Menschen wimmelnde und von Wolkenkratzern gesäumte Straßenschlucht hinunterflog. Nichts konnte die Maschine aufhalten, denn der Pilot liebte sie gerade. Sie landeten glatt, die Türen gingen auf, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Düfte des Orients in der Nase, die sie wie eine Heimkehrerin begrüßten. Es war sieben Uhr abends, aber es hätte genauso gut drei Uhr morgens sein können; denn sie wusste sofort, dass dies keine Welt war, die schlafen ging. Der Tumult in der Ankunftshalle erinnerte sie an den Derby-Day vor den großen Ferien; es standen genug Bewaffnete in verschiedenen Uniformen herum, um einen eigenen Krieg zu führen. Ihre Schultertasche an die Brust gedrückt, ging sie auf die Schlange vor dem Schalter für Einreisende zu und stellte verwundert fest, dass sie lächelte. Ihr ostdeutscher Pass, ihre Verkleidung, die vor fünf Stunden auf dem Londoner Flughafen noch eine Frage von Leben und Tod für sie gewesen waren, in dieser Atmosphäre rastlosen und gefährlichen Drängens waren sie bedeutungslos.

»Stell dich an der linken Schlange an, und wenn du deinen Pass zeigst, frag nach Mr. Mercedes«, hatte Helga ihr befohlen, als sie auf dem Parkplatz von Heathrow im Citroen gesessen hatten.

»Und was passiert, wenn er mich mit einem Schwall Deutsch überfällt?«

Die Frage war unter ihrer Würde. »Wenn du dich verirrst, nimm ein Taxi, fahr ins Commodore Hotel, setz dich ins Foyer und warte. Das ist ein Befehl. Mercedes - wie das Auto.«

»Und dann?«