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»Charlie, ich finde wirklich, du stellst dich ein bisschen dämlich und stur an. Hör endlich damit auf.«

»Sonst erschießt du mich«, sagte Charlie anzüglich.

»Miss Palme! Passport! Pass! Ja, bitte!«

Die Worte kamen von einem kleinen, glückstrahlenden Araber mit einem Eintagebart, krusseligem Haar und makelloser, fadenscheiniger Kleidung. »Bitte«, wiederholte er und zupfte sie am Ärmel. Sein Jackett stand offen, und er hatte einen großen silbernen Revolver im Gürtel stecken. Zwischen ihr und dem Beamten der Passbehörde standen noch etwa zwanzig Leute, und Helga hatte sie überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass es so sein könne. »Ich bin Mr. Danny. Bitte, Miss Palme. Kommen Sie!« Sie gab ihm ihren Pass, und er stürzte sich damit in die Menge, die Arme weit ausgebreitet, damit sie in seinem Kielwasser folgen konnte. So viel zu Helga. So viel zu Mercedes. Danny war verschwunden, doch einen Augenblick später tauchte er mit stolzgeschwellter Brust wieder auf. Mit der einen Hand hatte er eine weiße Landekarte umklammert, mit der anderen hatte er einen großen, offiziell aussehenden Mann in schwarzer Lederjacke gepackt. »Freunde«, erklärte Danny mit einem breiten patriotischen Grinsen. »Alle Freunde von Palästina.«

Irgendwie bezweifelte sie das, doch war sie angesichts seiner Begeisterung zu höflich, das zu sagen. Der große Mann betrachtete sie ernst von oben bis unten und vertiefte sich dann in den Pass, den er Danny reichte. Zuletzt besah er sich noch die weiße Landekarte und steckte sie dann in seine Brusttasche.

»Willkommen«, sagte er auf deutsch, nickte rasch mit schräg gehaltenem Kopf, eine Aufforderung, sich zu beeilen. Sie waren an der Tür, als die Schlägerei begann. Zunächst fing es ganz harmlos damit an, dass ein uniformierter Beamter offensichtlich einem wohlhabend aussehenden Reisenden etwas sagte. Plötzlich schrieen die beiden einander an und fuchtelten sich gegenseitig mit den Händen dicht vor dem Gesicht herum. In Sekundenschnelle hatte jeder der beiden Streithähne Mitstreiter, und als Danny sie zum Parkplatz führte, stolperte eine Gruppe von Soldaten mit grünen Mützen im Laufschritt auf die Walstatt und nahm im Laufen die Maschinenpistolen von der Schulter.

»Syrer«, erklärte Danny und lächelte sie dabei philosophisch an, als wolle er sagen, jedes Land habe seine Syrer.

Das Auto - ein alter blauer Peugeot - parkte neben einem Kaffeestand und roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Danny machte die hintere Tür auf und bürstete mit der Hand die Polster ab. Als sie einstieg, glitt von der anderen Seite ein Junge herein und setzte sich neben sie. Als Danny den Motor anließ, tauchte ein zweiter Junge auf und setzte sich auf den Beifahrersitz. Es war so dunkel, dass sie ihre Gesichter nicht richtig sehen konnte, doch ihre Maschinenpistolen konnte sie gut erkennen. Die beiden waren so jung, dass sie es im ersten Augeblick schwierig fand zu glauben, dass die Waffen echt waren. Der Junge neben ihr bot ihr eine Zigarette an und war traurig, als Charlie ablehnte.

»Sprechen Spanisch?« erkundigte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit, um ihr etwas anderes anzubieten. Charlie sprach kein Spanisch. »Dann verzeihen mein Englisch. Könnten Sie Spanisch, würde ich perfekt sprechen.« »Aber dein Englisch ist großartig.«

»Das stimmt nicht«, erklärte er vorwurfsvoll, als sei er bereits einer westlichen Perfidie auf die Spur gekommen, und versank in Schweigen.

Hinter ihnen fielen ein paar Schüsse, doch keiner verlor ein Wort darüber. Sie näherten sich einer mit Sandsäcken befestigten MG-Stellung. Danny brachte den Wagen zum Stehen. Ein uniformierter Wachtposten starrte sie an und winkte sie dann mit seiner Maschinenpistole durch.

»War das auch ein Syrer?« fragte sie. »Libanese«, sagte Danny aufseufzend.

Dennoch merkte sie ihm seine Aufregung an. Alle drei waren von einer gewissen Erregung gepackt - man spürte, dass sie auf der Hut waren, dass Augen und Kopf schnell arbeiteten. Die Straße war teils Schlachtfeld, teils Bauplatz; die Straßenlampen - sofern sie funktionierten - ließen das in schnell vorbeifliegenden Ausschnitten erkennen. Die Stümpfe verkohlter Bäume erinnerten an eine anmutige Allee; neue Bougainvilleas begannen sich über den Trümmern auszubreiten. Ausgebrannte und von Kugeln durchsiebte Autowracks standen auf den Bürgersteigen herum. Sie kamen an erleuchteten Schuppen mit grell bunten Läden darin und hochragenden Silhouetten zerschossener Gebäude vorüber, die zu zerklüfteten Bergspitzen zerbrochen waren. Sie fuhren an einem Haus vorüber, das dermaßen von Einschüssen durchlöchert war, dass es einer gigantischen Käsereibe glich, die sich vor dem bleichen Himmel im Gleichgewicht hielt. Ein Stück Mond glitt von einem Loch zum nächsten, hielt mit ihnen Schritt. Gelegentlich tauchte ein brandneues Gebäude auf: halb fertig, halb beleuchtet, halb bewohnt - ein Spekulationsobjekt aus roten Tragebalken und schwarzem Glas. »Prag, ich war zwei Jahre. Havanna, Kuba, drei. Sind Sie in Kuba gewesen?«

Der Junge neben ihr schien sich von seiner Enttäuschung erholt zu haben. »Ich bin nie in Kuba gewesen«, gestand sie. »Jetzt bin ich offizieller Dolmetscher. Spanisch - arabisch.« »Phantastisch«, sagte Charlie. »Gratuliere.« »Ich für Sie dolmetschen, Miss Palme?«

»Jederzeit«, sagte Charlie, und alle lachten ausgiebig. Die Europäerin war wieder in Gnaden aufgenommen.

Danny schaltete herunter, fuhr im Schrittempo weiter und kurbelte sein Fenster herunter. Dicht vor ihnen, mitten auf der Straße, glomm ein Kohlebecken, und eine Gruppe von Männern und Jungen in weißen Kaffiyehs und Teilen khakifarbener Kampfanzüge saß darum. Ein paar braune Hunde hatten in ihrer Nähe ein eigenes Lager aufgeschlagen. Sie musste an Michel denken, wie er in seinem Heimatdorf den Erzählungen der Reisenden gelauscht hatte, und dachte: Jetzt haben sie ein Dorf auf der Straße gebaut. Als Danny auf die Lichthupe tippte, stand ein schöner alter Mann auf, rieb sich den Rücken, kam - die Maschinenpistole in der Hand - zu ihnen herübergeschlurft und steckte sein runzliges Gesicht so weit zu Dannys Fenster hinein, bis sie sich umarmen konnten. Die Unterhaltung ging endlos zwischen ihnen hin und her. Da sie niemand beachtete, lauschte Charlie auf jedes ihrer Worte und stellte sich vor, sie könne irgendwie etwas verstehen. Als sie jedoch an dem Alten vorbei sah, bot sich ihr ein weniger angenehmer Anblick: regungslos im Halbkreis stehend, hatten vier von den Zuhörern des alten Mannes die Maschinenpistolen auf den Wagen gerichtet, und keiner von ihnen war älter äs fünfzehn Jahre. »Unsere Leute«, sagte Charlies Nachbar ehrfürchtig, als sie schließlich weiterfuhren. »Palästinenserkommandos. Unser Teil der Stadt.«

Und auch Michels Teil, dachte sie stolz.

Es fällt dir bestimmt nicht schwer, sie gern zu haben, hatte Joseph ihr gesagt.

Charlie verbrachte vier Nächte und vier Tage mit den Jungen und hatte jeden einzelnen, aber auch alle zusammen gern. Sie waren die erste von zahlreichen ›Familien‹ , in die sie aufgenommen wurde. Sie brachten sie ständig woanders unter, wie einen Schatz, immer in der Dunkelheit und immer mit ausgesuchter Höflichkeit. Sie sei so unverhofft eingetroffen, erklärten sie ihr mit bezauberndem Bedauern; es sei »für unseren Captain« nötig, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Sie nannten sie »Miss Palme«, und vielleicht dachten sie wirklich, dass sie so hieß. Sie erwiderten Charlies Zuneigung zu ihnen, stellten jedoch nie persönliche oder aufdringliche Fragen, sondern bewahrten in jeder Hinsicht eine scheue und disziplinierte Zurückhaltung, die Charlie auf die Autorität, die sie in Zaum hielt, neugierig machte. Ihr erstes Zimmer lag im obersten Stock eines alten, von Kugeln zernarbten Hauses, aus dem alles Lebendige verschwunden war bis auf den Papagei des abwesenden Besitzers; der Vogel hatte einen Raucherhusten, den er jedes Mal ertönen ließ, wenn sich jemand eine Zigarette anzündete. Sein anderes Kunststück war ein Gekecker wie das Schrillen des Telefons, und er machte es in den Nachtstunden, so dass sie sich an die Tür schlich und darauf wartete, dass jemand an den Apparat ging. Die Jungen schliefen draußen auf dem Treppenabsatz, immer nur einer, während die anderen beiden rauchten, winzige Gläser süßen Tee tranken und sich beim Kartenspiel halblaut wie am Lagerfeuer unterhielten.