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Die Nächte waren endlos, und doch waren keine zwei Minuten gleich. Sogar die Geräusche führten Krieg miteinander, hielten sich erst in sicherer Entfernung, kamen näher, fanden sich zu Gruppen zusammen und fielen dann in einem Scharmützel widerstreitender Geräusche übereinander her - ein Schwall Musik, das Quietschen von Autoreifen und das Aufheulen von Sirenen -, dem tiefste Waldesruhe folgte. Gewehrfeuer erklang in diesem Orchester nur selten: hier ein Trommelwirbel, dort ein Zapfenstreich, gelegentlich das langsame Pfeifen eines Geschosses. Einmal hörte sie schallendes Gelächter, aber menschliche Stimmen waren selten. Einmal nachdem sie am frühen Morgen eindringlich an ihre Tür geklopft hatten, waren Danny und die beiden Jungen auf Zehenspitzen an ihr Fenster getreten. Als sie ihnen folgte, sah sie hundert Schritt die Straße hinunter ein Auto stehen. Rauch quoll heraus, dann wurde es in die Höhe gehoben und rollte auf die Seite wie jemand, der sich im Bett umdreht. Ein Schwall warmer Luft stieß sie ins Zimmer zurück. Irgend etwas fiel von einem Regal herunter. Sie hörte, wie es in ihrem Kopf einen dumpfen Ton gab.

»Frieden«, sagte Mahmoud, der hübscheste von den Burschen, augenzwinkernd; dann zogen sie sich mit leuchtenden Augen und voller Zuversicht zurück.

Nur die Morgendämmerung war vorhersagbar; denn dann ertönte die Stimme des Muezzins über krächzende Lautsprecher und rief die Gläubigen zum Gebet.

Trotzdem akzeptierte Charlie alles und gab sich ihrerseits allem ganz hin. In dem Widersinn rings um sie her, in dieser unverhofften Ruhepause zum Nachdenken, fand sie endlich eine Wiege für ihre eigene Irrationalität. Und da inmitten eines solchen Chaos kein Widerspruch zu groß war, als dass man ihn nicht hätte ertragen können, fand sie darin auch einen Platz für Joseph. In dieser Welt unerklärter vielfältiger Hingabe war ihre Liebe zu ihm in allem, was sie hörte und worauf ihr Auge fiel. Und wenn die Jungen sie bei Tee und Zigaretten mit kühnen Geschichten unterhielten, was ihre Familien unter den Zionisten alles zu erleiden gehabt hatten - wie Michel es getan hatte und mit der gleichen Neigung zum Romantischen -, war es wiederum ihre Liebe zu Joseph, ihre Erinnerung an seine sanfte Stimme und sein bezauberndes Lächeln, das ihr Herz für ihre Tragödie öffnete.

Das zweite Zimmer, in dem sie schlief, lag hoch in einem glitzernden Mietshaus. Von ihrem Fenster aus starrte sie auf die schwarze Fassade einer neuen internationalen Bank und daran vorbei hinaus auf das reglose Meer. Der leere Strand mit den verlassenen Strandhütten wirkte trostlos wie ein Badeort, der nie Saison hat. Ein einzelner Strandläufer wirkte so exzentrisch wie ein Badelustiger am Weihnachtstag im Serpentine-Teich. Das Merkwürdigste in dieser Wohnung waren jedoch die Vorhänge. Als die Jungen sie am Abend für sie zuzogen, war ihr nichts weiter daran aufgefallen. Doch als der Morgen graute, sah sie, dass eine Reihe Kugellöcher in einer Schlangenlinie über das Fenster lief. Das war der Tag, an dem sie den Jungs zum Frühstück Omelettes machte und ihnen Gin Rummy beibrachte, bei dem sie um Streichhölzer spielten. In der dritten Nacht schlief sie über einer Art militärischem Hauptquartier. Vor den Fenstern waren Gitterstäbe und an der Treppe Kugeleinschläge. Plakate von Kindern, die mit Maschinenpistolen oder Blumensträußen winkten. Auf jedem Treppenabsatz standen dunkeläugige Wachen herum, und das ganze Gebäude hatte eine tumultöse Atmosphäre, es war wie bei der Fremdenlegion. »Bald wird unser Captain Sie empfangen«, versicherte Danny ihr liebevoll von Zeit zu Zeit. »Er trifft seine Vorbereitungen, er ist ein großer Mann.«

Allmählich lernte sie das arabische Lächeln zu interpretieren, das Verzögerung rechtfertigt. Um sie über das Warten hinwegzutrösten, erzählte ihr Danny die Geschichte seines Vaters. Nach zwanzig Jahren im Lager schien der alte Mann vor Verzweiflung wirr im Kopf geworden zu sein. So packte er eines Morgens noch vor Sonnenaufgang seine paar Habseligkeiten samt den Besitzurkunden für sein Land in einen Sack, und ohne seiner Familie ein Wort davon zu sagen, machte er sich auf und überschritt die zionistischen Linien, um höchst persönlich seinen Hof zurückzuverlangen. Danny und seine Brüder setzten hinter ihm her und kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie seine gebeugte Gestalt weiter und immer weiter ins Tal vordrang, bis ihn eine Landmine in die Luft jagte. All dies berichtete Danny mit erstaunter Genauigkeit, während die anderen sein Englisch kontrollierten, ihn unterbrachen und einen Satz neu formulierten, wenn ihnen sein Satzbau oder sein Tonfall nicht gefiel, und wie alte Männer nickten, wenn sie eine Formulierung gut fanden. Als er fertig war, stellten sie ihr eine Reihe von ernsten Fragen über die Keuschheit der europäischen Frauen: sie hätten schändliche, aber auch nicht ganz uninteressante Dinge darüber gehört.

So gewann sie sie von Tag zu Tag lieber - ein Vier-TageWunder. Sie liebte ihre Schüchternheit, ihre Unberührtheit, ihre Disziplin und ihre Autorität ihr gegenüber. Sie liebte sie als Aufpasser und als Freunde. Doch trotz all ihrer Liebe gaben sie ihr nie ihren Pass zurück, und wenn sie ihren Maschinenpistolen zu nahe kam, zogen sie sich mit gefährlichen und unnachgiebigen Blicken von ihr zurück.

»Komm, bitte«, sagte Danny und klopfte leise an ihre Tür, um sie zu wecken. »Unser Captain ist bereit.« Es war drei Uhr und noch dunkel.

Später erinnerte sie sich an ungefähr zwanzig Autos, aber es hätten genauso gut fünf gewesen sein können, denn alles ging jetzt sehr schnell, ein Hin und Her von immer beunruhigenderen Fahrten quer durch die Stadt, in sandfarbenen Limousinen mit Antennen vorn und hinten und Leibwächtern, die kein Wort sprachen. Das erste Auto wartete unten vorm Haus, allerdings auf der Hofseite, wo sie bisher noch nicht gewesen war. Erst als sie den Hof verlassen hatten und eine Straße hinunterrasten, wurde ihr klar, dass sie die Jungen zurückgelassen hatte. Am Ende der Straße schien der Fahrer etwas zu sehen, was ihm nicht gefiel, denn er riss den Wagen mit quietschenden Reifen herum, so dass er fast umgekippt wäre, und als sie die Straße wieder zurückrasten, hörte sie Geratter und ganz in ihrer Nähe einen Ruf und spürte, wie eine schwere Hand ihr den Kopf nach unten drückte; offenbar war das Gewehrfeuer für sie bestimmt gewesen.

Sie jagten bei Rot über eine Kreuzung, und um Haaresbreite hätten sie einen Laster gerammt; sie fuhren nach rechts auf einen Bürgersteig hinauf und dann in weitem Bogen nach links auf einen abfallenden Parkplatz, der über einem verlassenen Strand lag. Sie sah Josephs Halbmond, der über dem Meer hing, wieder, und einen Augenblick lang war hi r, als sei sie wieder auf der Fahrt nach Delphi. Sie hielten neben einem großen Fiat und warfen sie förmlich hinein; wieder war sie unterwegs, Besitz von zwei neuen Leibwächtern, und fuhr -dicht gefolgt von zwei Scheinwerfern - eine Autostraße mit vielen Schlaglöchern hinunter; links und rechts ragten zerschossene Häuser auf. Die Berge direkt vor ihr waren schwarz, die zu ihrer Linken hingegen grau, denn ein Schimmer aus dem Tal fiel auf ihre Flanken, und jenseits des Tals war wieder das Meer. Die Tachonadel stieg auf 140, doch dann war plötzlich überhaupt nichts mehr zu sehen, weil der Fahrer die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte und der sie verfolgende Wagen ebenfalls.

Rechts von ihnen erstreckte sich eine Zeile Palmen, links der Mittelstreifen, der die beiden Fahrspuren trennte: eine knapp zwei Meter breite erhöhte Trasse, manchmal kiesbedeckt, manchmal bewachsen. Mit einem Mordsruck fuhren sie hinauf und landeten mit einem zweiten auf der Gegenfahrbahn. Entgegenkommende Fahrzeuge hupten sie an, und Charlie schrie »Himmel!«, doch der Fahrer war für Blasphemien nicht empfänglich. Er blendete die Scheinwerfer voll auf und fuhr direkt auf den entgegenkommenden Verkehr zu, ehe er unter einer kleinen Brücke den Wagen wieder nach links herumriss. Unvermittelt kamen sie schlitternd auf einem leeren Feldweg zum Stehen, wo sie in ein drittes Auto umstieg, diesmal einen fensterlosen Landrover. Es regnete. Das fiel ihr erst jetzt auf, denn als sie sie hinten im Landrover verstauten, wurde sie von einem plötzlichen Guss bis auf die Haut durchnässt, und sie sah einen weißen Blitz in den Bergen einschlagen. Aber vielleicht war es auch eine Granate.