»Nun, gut amüsiert?« quäkte er. »Sich den Bauch mit gutem Essen vollgeschlagen? Wie ich sehe, haben Sie da draußen ganz schön zugenommen.«
Ein Wort gab das andere, und beide legten los; ihr Geschrei hallte durchs ganze Haus, und sie beschimpften sich und hämmerten mit der geballten Faust auf den Tisch wie bei einem die Atmosphäre reinigenden Ehestreit. Kurtz habe doch Fortschritte versprochen - was denn damit sei? wollte die Krähe wissen. Wo denn die große Abrechnung bleibe, von der er geredet habe? Und was habe er da über Alexis gehört, wo er Marty doch ausdrücklich angewiesen habe, nicht mit diesem Mann weiterzumachen? »Wundert es Sie, dass ich da meinen Glauben verliere - so viel Einsatz und Geld, so viele Befehle, um die Sie sich einen Dreck geschert haben, und so magere Ergebnisse?« Zur Strafe verpflichtete Gavron ihn, an einer Sitzung seines Lenkungsausschusses teilzunehmen, in dem inzwischen von nichts anderem als vom letzten Mittel die Rede war. Kurtz musste sich den Mund fusselig reden, nur um sie zu einer Modifizierung ihrer Pläne zu bewegen.
»Aber was hast du denn laufen, Marty?« wollten seine Freunde mit eindringlich gedämpfter Stimme auf den Korridoren wissen. »Gib uns doch zumindest einen Hinweis, damit wir wissen, warum wir dir helfen.«
Sein Schweigen verletzte sie, und wenn sie gingen und er allein dastand, kam er sich noch mehr wie ein schäbiger Beschwichtiger vor.
Es gab noch andere Fronten, an denen gekämpft werden musste. Um Charlies Vorrücken im Feindesland zu überwachen, war er gezwungen, mit dem Hut in der Hand zu jener Regierungsstelle zu gehen, deren Hauptaufgabe es war, Untergrund-Kurierlinien und Lauschposten an der Nordostküste zu unterhalten. Der Leiter, ein Sephardim aus Aleppo, hasste jeden, aber Kurtz ganz besonders. Wer weiß, wohin ihn eine solche Observierung bringe, wandte er ein. Wo er denn mit seinen eigenen Unternehmungen bleibe? Und drei von Litvaks Observanten draußen Unterstützung zu gewähren, bloß um dem Mädchen in der neuen Umgebung das Gefühl von Gemütlichkeit zu geben - nun, bei ihnen werde niemand so mit Samthandschuhen angefasst. Es sei einfach nicht zu machen. Es kostete Kurtz Blutopfer und alle möglichen Zugeständnisse unter der Hand, um jenes Maß an Zusammenarbeit zu erreichen, das er brauchte. Aus diesen und ähnlichen Abmachungen hielt Misha Gavron sich wohlweislich heraus; er vertraute darauf, dass die Kräfte des Marktes eine natürliche Lösung fanden. Wenn Kurtz fest genug an etwas glaube, sagte er seinen Leuten insgeheim, werde er auch damit durchkommen; ihn ein bisschen an die Kandare zu nehmen und ab und zu auch mal die Peitsche kosten zu lassen, schade einem solchen Mann nicht, sagte Gavron. Da Kurtz Jerusalem ungern auch nur für eine Nacht verließ, während all diese Dinge eingefädelt wurden, übertrug er es Litvak, den Pendelverkehr mit Europa aufrechtzuerhalten und als sein Abgesandter das Observierungsteam zu stärken und umzubilden, vor allem aber auf jede nur denkbare Weise auf das vorzubereiten, wovon alle inbrünstig hofften, dass es die Schlussphase sein würde. Die unbeschwerten Münchener Tage, wo ein paar Leute in Doppelschicht ausgereicht hatten, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, waren endgültig vorüber. Um das himmlische Trio von Mesterbein, Helga und Rossino rund um die Uhr im Auge zu behalten, hatten ganze Trupps von Außenarbeitern rekrutiert werden müssen - die alle Deutsch sprechen mussten, das bei vielen mangels Übung schon recht eingerostet war. Litvaks Misstrauen gegenüber nichtisraelischen Juden machte das alles nur noch schwieriger, aber er wollte auch nicht nachgeben: sie seien zu zimperlich, wenn es galt, hart zuzupacken; in ihrer Loyalität zu gespalten. Auf Kurtz’ Befehl flog Litvak sogar nach Frankfurt zu einem heimlichen Treffen mit Alexis am Flughafen, teils um seine Hilfe bei den Observierungsarbeiten zu bekommen, teils auch - wie Kurtz es ausdrückte -, um festzustellen, wie viel »Rückgrat«, eine besonders rare Eigenschaft, er habe. Auf jeden Fall war die Erneuerung ihrer Bekanntschaft eine Katastrophe, denn die beiden Männer konnten sich auf den ersten Blick nicht ausstehen, ja, schlimmer noch: Litvaks Meinung bestätigte nur eine früher von Gavrons Psychiatern gemachte Vorhersage: dass man Alexis nicht einmal eine gebrauchte Bus-Fahrkarte anvertrauen könne.
»Die Entscheidung ist gefallen«, verkündete Alexis Litvak, noch ehe sie überhaupt Platz genommen hatten; und verkündete das in einem erbosten, halb geflüsterten, halb zusammenhanglosen Monolog, bei dem er immer wieder ins Falsett umschlug. »Und ich revidiere eine Entscheidung nie; dafür bin ich bekannt. Gleich nach unserer Besprechung gehe ich zu meinem Minister und rede mir alles von der Seele. Für einen Ehrenmann gibt es keine Alternative.« Alexis, so stellte sich rasch heraus, war nicht nur anderen Sinnes geworden, sondern hatte auch politisch eine Kehrtwendung gemacht. »Nichts gegen die Juden - als Deutscher hat man schließlich ein Gewissen -, aber nach bestimmten Erfahrungen, die ich in der letzten Zeit gemacht habe - ein gewisser Bombenanschlag -gewisse Maßnahmen, zu denen man gezwungen, ja, geradezu erpresst wurde-, geht einem auch auf, warum die Juden im Laufe der Geschichte immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren. Verzeihen Sie mir.«
Litvak sah ihn finster-beherrscht an und verzieh ihm gar nichts. »Ihr Freund Schulmann - ein fähiger Mann, beeindruckend - und auch überzeugend -, Ihr Freund kennt keine Mäßigung. Er hat auf deutschem Boden ohne jede Ermächtigung von unserer Seite Gewalttaten verübt und ist von einer Maßlosigkeit, wie sie zu lange uns Deutschen zugeschrieben wurde.« Litvak hatte die Nase gestrichen voll. Krank und bleich aussehend,
hatte er die Augen abgewandt, vielleicht, um das Funkeln darin zu verbergen. »Warum rufen Sie ihn nicht an und sagen ihm das selbst?« hatte er vorgeschlagen. Und Alexis hatte es getan. Vom Fernsprechamt am Flugplatz, unter einer besonderen Nummer, die Kurtz ihm gegeben hatte, während Litvak neben ihm stand und sich die Mithörmuschel ans Ohr hielt.
»Tja, dann tun Sie das, Paul«, riet Kurtz ihm von ganzem Herzen, nachdem Alexis fertig war. Dann veränderte sich seine Stimme: »Und wenn Sie schon mit Ihrem Minister sprechen, Paul, vergessen Sie nicht, ihm auch von Ihrem Schweizer Bankkonto zu erzählen. Denn wenn Sie das nicht tun, könnte Ihre beispielhafte Aufrichtigkeit mich dazu bringen, hinzufliegen und ihn persönlich darüber zu informieren.«
Anschließend gab Kurtz seiner Telefonzentrale die Anweisung, die nächsten achtundvierzig Stunden keine Anrufe von Alexis zu ihm durchzustellen. Aber Kurtz nahm nichts übel. Jedenfalls Agenten nicht. Nachdem die Abkühlungsperiode vorüber war, nahm er sich einen Tag frei und pilgerte selbst nach Frankfurt, wo er feststellte, dass der gute Doktor sich recht gut erholt hatte. Die Anspielung auf das Schweizer Bankkonto, auch wenn Alexis sie bekümmert ›unsportlich‹ nannte, hatte ihn wieder nüchtern gemacht. Doch was am meisten zu seiner Besserung beigetragen hatte, war der freudige Umstand, dass er sich im Mittelteil eines viel gelesenen deutschen Boulevardblattes abgebildet gefunden hatte - entschlossen, engagiert und stets mit dem untergründigen Alexis’schen Witz -, was ihn davon überzeugte, dass er wirklich der war, als den sie ihn hinstellten. Kurtz tat nichts, um ihm diese glückliche Lebenslüge zu zerstören, und als Preis dafür brachte er seinen überarbeiteten Analytikern einen quälend-interessanten Anhaltspunkt mit, den Alexis ihnen in seinem Groll vorenthalten hatte: die Fotokopie einer an Astrid Berger, einem ihrer vielen Tarnnamen, adressierten Ansichtskarte. Handschrift unbekannt, Poststempeclass="underline" Paris, 17. Arrondissement. Auf Befehl von Köln von der deutschen Post abgefangen. Der Text, der in Englisch geschrieben war, lautete folgendermaßen: »Der arme Onkel Frei wird nächsten Monat wie geplant operiert. Das passt insofern gut, als Du Vs Haus benutzen kannst. Wir sehen uns dort. Herzlichst, K.«