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»Wirklich? Dann seid ihr also damit auf Tournee gegangen. Wie schön.«

»Ja, nicht wahr? Bist du auf deinen Reisen nicht mal nach York gekommen?»

»Ach, leider bin ich nie weiter nach Norden raufgekommen als nach Hampstead, London. Aber ich habe gehört, dass York sehr schön ist.«

»Ach, York ist phantastisch. Besonders das Münster.«

Sie starrte ihn weiter an, solange sie es aushielt, das Gesicht in der ersten Reihe Parkett. Sie forschte in seinen dunklen Augen und in der glatten Haut, die sie umgab, nach dem kleinsten Zucken von Komplizenschaft, Lachen, doch alles blieb unbewegt, verriet nichts.

Er leidet unter Gedächtnisschwund, zu diesem Schluss kam sie.

Oder ich. Du meine Güte!

Er lud sie nicht zum Frühstück ein; sie hätte bestimmt abgelehnt. Er rief einfach nach dem Kellner und fragte auf Griechisch, welcher Fisch heute frisch sei. Tat das mit Autorität, weil er wusste, dass sie gern Fisch aß, hielt den Arm in die Höhe gereckt wie ein Dirigent, der Einhalt gebietet. Schickte den Kellner dann fort und redete

weiter mit ihr übers Theater, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, um neun Uhr morgens an einem Sommertag Fisch zu essen und Wein zu trinken - obwohl er für sich selbst Coca-Cola bestellte. Er wusste, worüber er redete. Mochte er auch nicht weiter oben im Norden gewesen sein, so besaß er doch eine eingehende

Kenntnis der Londoner Theaterwelt, etwas, was er sonst keinem der Gruppe enthüllt hatte. Und während er redete, befiel sie das verunsichernde Gefühl, das sie von Anfang an bei ihm gehabt hatte: dass seine äußere Erscheinung wie auch sein Aufenthalt hier ein Vorwand waren - er hatte die Aufgabe, eine Bresche zu schlagen, durch die er sein anderes, sein durch und durch diebisches Wesen wie durch Zauberhand hinauslassen konnte. Sie fragte ihn, ob er oft nach London komme. Er beteuerte, nach Wien sei London die einzige Stadt in der Welt, die es lohne.

»Wenn sich die kleinste Gelegenheit ergibt - pack’ ich sie beim Schöpfe«, erklärte er. Manchmal machte selbst das Englisch, das er sprach, den Eindruck, als habe er es sich auf unredliche Weise angeeignet. Sie dachte an gestohlene Stunden nächtlichen Lesens in einem Buch mit Redewendungen - soundso viele idiomatische Wendungen, die pro Woche zu lernen waren.

»Wir haben die Heilige Johanna aber auch in London aufgeführt - gerade erst, weißt du -, so vor ein paar Wochen.« »Im West-End? Aber das ist ja jammerschade, Charlie! Warum hab’ ich nur nichts davon gelesen? Warum bin ich nicht sofort hingegangen?«

»Im East-End«, berichtigte sie ihn mit umdüsterter Miene. Am nächsten Tag trafen sie sich in einer anderen Taverne wieder, ob zufällig, konnte sie nicht sagen, instinktiv zweifelte sie daran - und diesmal fragte er sie beiläufig, wann sie glaube, dass die Proben für Wie es euch gefällt losgehen würde, und sie antwortete, ohne über etwas anderes als über Alltägliches plaudern zu wollen, nicht vor Oktober, was - da sie ihr Theater kenne - bedeuten könne, selbst dann noch nicht; im übrigen sehe es so aus, als würde ohnehin nur eine Drei-Wochen-Tournee daraus. Das Arts Council habe letztes Jahr ihr Budget überzogen, erklärte sie, und jetzt sei die Rede davon, dass sie ihnen die Zuschüsse für die Tournee vielleicht ganz strichen. Um Eindruck auf ihn zu machen, schmückte sie das Ganze noch ein wenig aus.

»Ich meine, verstehst du, sie hatten geschworen, unser Stück wäre das letzte, dem sie die Unterstützung entziehen würden, und wir haben ja auch noch diese phantastische Rückenstärkung durch die Kritik im Guardian bekommen, und abgesehen davon, die ganze Geschichte kostet den Steuerzahler nur rund ein Dreihundertstel dessen, was man für einen Panzer bezahlen muss - aber was will man machen?«

Ja, was sie denn bis dahin vorhabe? Joseph fragte das hinreißend desinteressiert. Und merkwürdig - sie dachte hinterher viel darüber nach -, weil er behauptete, sie nicht als Heilige Johanna gesehen zu haben, schien es jetzt das selbstverständlichste von der Welt, dass sie es sich nun schuldig waren, das, was ihnen entgangen war, durch anderes wiedergutzumachen.

Charlie antwortete unbekümmert, dass sie vermutlich als Bardame die Runde durch die Theater mache. Als Kellnerin arbeite. Ihre Wohnung neu streiche. Warum?

Joseph gab sich schrecklich bekümmert. »Aber, Charlie, das ist doch nichts für dich. Bei deinem Talent verdienst du doch wohl was Besseres, als Bardame zu spielen? Wie steht’s denn mit Unterrichten oder mit Politik, berufsmäßig, meine ich? Wäre das denn nicht interessanter für dich?«

Da sie nervös war, lachte sie ziemlich verletzend über seinen Mangel an Weltkenntnis. »In England? Bei der Arbeitslosigkeit, die wir haben? Na, das schmink dir mal ab. Wer will mir denn fünftausend pro Jahr zahlen, um die vorhandene Ordnung umzustürzen? Ich gelte als subversiv, verdammt noch mal!«

Er lächelte. Er schien überrascht und nicht recht überzeugt. Mit seinem Lachen machte er ihr höflich Vorhaltungen. »Aber nein, Charlie, komm! Was bedeutet das?«

Darauf eingestellt, sich zu ärgern, hielt sie - den Kopf wie ein Hindernis vorgestreckt - wieder sein Starren aus. »Es bedeutet, dass sich jeder, wenn er mich sieht, sagt: ›Hände weg!‹ «

»Aber wem gegenüber bist du denn subversiv?« wandte er ernst ein. »Du kommst mir wie ein stinknormaler Mensch vor, wirklich!« Was immer sie an diesem Tag auch glauben mochte, sie hatte instinktiv das unbehagliche Gefühl, er sei drauf und dran, sie in der Auseinandersetzung zu überflügeln. Aus Selbstschutz zog sie sich daher auf eine plötzliche Mattigkeit im Verhalten zurück. »Lass mich doch in Ruhe, Jose, ja?« legte sie ihm müde nahe. »Wir sind hier auf einer griechischen Insel, stimmt’s? Machen Urlaub, ja? Du lässt die Finger von meiner Politik und ich sie von deinem Pass, einverstanden?«

Der Hinweis genügte. Sie war überrascht und beeindruckt von der Macht, die sie in diesem Augenblick über ihn hatte; dabei hatte sie gefürchtet, überhaupt keine zu haben. Die Getränke kamen, und als er seine Limonade trank, fragte er Charlie, ob sie während ihres Aufenthaltes hier schon viele griechische Altertümer gesehen habe. Diese Frage verriet ein ganz allgemeines Interesse, und Charlie ging in entsprechend unbekümmertem Ton darauf ein. Sie sei für einen Tag mit Long Al nach Delos gefahren, um sich den Apollon-Tempel dort anzusehen, sagte sie; aber weiter habe sie in der Beziehung nichts unternommen. Sie vermied es, ihm zu erzählen, dass Alastair sich an diesem Tag auf dem Schiff so hatte volllaufen lassen, dass er streitsüchtig geworden war und dass es überhaupt ein verlorener Tag gewesen war und sie hinterher ganze Stunden in den Papierwarenhandlungen der Stadt verbracht hatte, um in Fremdenführern über das wenige nachzulesen, was sie gesehen hatte. Nur hatte sie sehr zutreffend den Verdacht, dass er das ohnehin wusste. Aber erst als er die Sprache auf ihr Rückflug-Ticket nach England brachte, begann sie, eine taktische Absicht hinter seiner Neugier zu wittern. Joseph fragte, ob er es sehen könne, und sie fischte es darauf mit einem gleichgültigen Achselzucken aus der Tasche. Er nahm es, blätterte es durch und vertiefte sich ernsthaft in die Einzelheiten. »Tja, damit könntest du ja genauso gut von Saloniki aus fliegen«, verkündete er schließlich. »Warum lässt du mich nicht einfach einen Freund von mir anrufen, der bei einem Reisebüro arbeitet, damit er das Ticket umschreibt? Dann könnten wir zusammen reisen«, erklärte er, als wäre das die Lösung, auf die sie beide aus gewesen wären.

Sie sagte überhaupt nichts. In ihrem Inneren lag jeder Teil ihres Wesens mit dem anderen im Widerstreit: Das Kind kämpfte gegen die Mutter, die Nutte gegen die Nonne. Ihre Sachen fühlten sich rau auf der Haut an, und der Rücken brannte; trotzdem hatte sie immer noch nichts dazu zu sagen. »Ich muss heute in einer Woche in Saloniki sein«, erklärte er. »Wir könnten uns in Athen einen Leihwagen nehmen, Delphi mitnehmen und für ein paar Tage nach Norden fahren - warum nicht?« Ihr Schweigen machte ihm überhaupt nichts aus. »Wenn wir es richtig planen, dürften uns die Touristenströme nicht allzusehr stören, falls es das ist, was du fürchtest. Und wenn wir nach Saloniki kommen, nimmst du die Maschine nach London. Wir könnten uns auch beim Fahren abwechseln, wenn du gern möchtest. Ich hab’ von allen Seiten gehört, was für eine gute Autofahrerin du bist. Und selbstverständlich würdest du mein Gast sein.«