»Selbstverständlich«, sagte sie.
»Warum also nicht?«
Sie dachte an all die Gründe, die sie sich genau für diesen Augenblick oder einen ähnlichen zurechtgelegt hatte und die sie vorbringen könnte, an all die markigen Sätze, auf die sie zurückgriff, wenn ältere Männer sich an sie heranmachten. Sie dachte an Alastair, daran, wie langweilig es mit ihm überall war außer im Bett und in jüngster Zeit sogar dort. An das neue Kapitel in ihrem Leben, das sie sich selbst versprochen hatte. Sie dachte an den freudlosen Weg, auf dem sie jeden Penny umdrehen und für Kollegen einspringen musste und der sie erwartete, wenn sie ohne irgendwelche Ersparnisse nach England zurückkehrte; Joseph hatte sie zufällig oder hellsichtig daran erinnert. Sie blickte ihn wieder von der Seite an und entdeckte nirgends auch nur das geringste, was man als inständiges Bitten auslegen konnte: warum nicht? - und damit hatte sich’s. Sie dachte an seinen glatten und kraftvollen Körper, wie er einsam durchs Wasser eine Furche zog: warum nicht? Sie dachte daran, wie seine Hand sie gestreift hatte, dachte an den ängstlichen Ton des Erkennens in seiner Stimme: ›Tag, Charlie‹ - und das bezaubernde Lächeln, das sie seither kaum jemals wieder bei ihm gesehen hatte. Und sie dachte daran, wie oft es ihr durch den Kopf gegangen war, dass, wenn er jemals alle Hemmungen fahren ließ, der Knall ohrenbetäubend sein würde, und schließlich war es ja das gewesen, wie sie sich sagte, was sie vor allem zu ihm hingezogen hatte.
»Aber die anderen dürfen nichts davon erfahren«, brummte sie, den Kopf über ihr Glas gebeugt. »Das musst du irgendwie deichseln. Die würden sich sonst ausschütten vor Lachen.«
Daraufhin erklärte er munter, er werde morgen früh abreisen und alles in die Wege leiten: »Und natürlich, wenn du deine Freunde wirklich im dunkeln lassen willst...«
Ja, das wolle sie, verdammt noch mal!
Dann, sagte Joseph im selben praktischen Tonfall, schlage er folgendes vor. Ob er den Plan im Voraus vorbereitet hatte oder ob das nur seine Art zu denken war, vermochte sie nicht zu sagen. So oder so, sie war dankbar für seine Präzision, wenn ihr auch hinterher aufging, dass sie damit gerechnet hatte.
»Du fährst zusammen mit deinen Freunden nach Piräus. Das Schiff legt dort normalerweise am späten Nachmittag an; könnte aber sein, dass es in dieser Woche durch Streiks später wird als sonst. Kurz bevor das Schiff in den Hafen einläuft, sagst du ihnen dann, du hättest vor, dich noch für ein paar Tage allein auf dem Festland umzusehen. Einer dieser spontanen Entschlüsse, für die du berühmt bist. Bind es ihnen nicht zu früh auf die Nase, sonst versuchen sie die ganze Überfahrt über, es dir auszureden. Und sag ihnen nicht zuviel, das ist ein Zeichen für ein schlechtes Gewissen«, fügte er noch mit der Autorität dessen hinzu, der mal eins hatte. »Und was ist, wenn ich pleite bin?« sagte sie, ehe sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, denn wie gewöhnlich hatte Alastair nicht nur von seinem, sondern auch noch von ihrem Geld gelebt. Trotzdem hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen; hätte er ihr in diesem Augenblick Geld angeboten, sie hätte es ihm ins Gesicht geschleudert. Doch das schien er zu spüren.
»Wissen sie denn, dass du pleite bist?«
»Natürlich wissen sie das nicht.«
»Dann, würde ich meinen, haut das mit deiner Tarngeschichte hin.« Und als ob damit alles klar sei, ließ er ihr Flugticket in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Hey, gib das zurück! schrie sie plötzlich wie wachgerüttelt -allerdings nicht wirklich, wenn sie es auch fast getan hätte. »Sobald du deine Freunde abgehängt hast, nimm ein Taxi zum Koloktroni-Platz.« Er buchstabierte das für sie. »Die Fahrt kostet dich so an die zweihundert Drachmen.« Er wartete, um zu erfahren, ob das ein Problem war, doch das war es offenbar nicht; sie hatte noch achthundert, was sie ihm freilich nicht sagte. Er wiederholte den Namen des Platzes noch einmal und vergewisserte sich, dass sie ihn sich fest eingeprägt hatte. Es war eine wahre Wonne, sich seiner militärischen Tüchtigkeit unterzuordnen. Gleich hinter dem Platz, so sagte er, sei ein Straßenrestaurant. Er nannte ihr auch den Namen - Diogenes -und gestattete sich einen humoristischen Schlenker: ein schöner Name, sagte er, einer der besten in der ganzen Geschichte; die Welt brauche mehr von seiner Art und weniger Alexanders. Er werde im Diogenes warten. Nicht draußen, sondern drin im Gastzimmer, wo es kühl und intim sei. Wiederhol noch mal, Charlie: Diogenes. Unsinnigerweise tat sie es widerstandslos.
»Direkt neben dem Diogenes liegt das Hotel Paris. Sollte ich zufällig aufgehalten werden, lass ich eine Nachricht für dich an der Hotelrezeption zurück. Frag nach Mr. Larkos. Larkos ist ein guter Freund von mir. Wenn du irgendwas brauchst, Geld oder was auch immer, zeig ihm dies hier, und er wird es dir geben.« Er reichte ihr eine Visitenkarte. »Kannst du das alles behalten? Aber selbstverständlich, du bist ja schließlich Schauspielerin. Du kannst Worte, Gesten, Zahlen, Farben behalten - alles.«
Richthoven-Export, las sie, und darunter eine Wiener Postfachnummer.
Sie kam an einem Kiosk vorüber, fühlte sich wunderbar, ja geradezu gefährlich lebendig und kaufte ihrer Scheiß-Mutter eine geklöppelte Tischdecke und für ihren Neffen Kevin, der ihr so auf die Nerven gehen konnte, eine griechische Mütze mit Troddel daran. Das vollbracht, suchte sie ein Dutzend Postkarten aus, von denen sie die meisten an den alten Ned Quilley, ihren nutzlosen Londoner Agenten, adressierte und mit lustigen Botschaften vollschrieb, die ihn vor den affektierten Damen in seinem Büro in Verlegenheit bringen sollten. »Ned, Ned«, schrieb sie auf einer, »bewahr all Deine Glieder für mich auf«, und auf einer anderen: »Ned, Ned, kann eine gefallene Frau noch tiefer sinken?« Aber bei einer weiteren beschloss sie dann doch, ihrer Phantasie Zügel anzulegen und ihm mitzuteilen, dass sie daran denke, ihre Rückkehr etwas hinauszuschieben, damit sie auf dem Festland noch was zu sehen bekomme. »Es wird Zeit, dass Deine Chas ihre Kenntnisse in Kulturgeschichte ein wenig aufpoliert, Ned«, erklärte sie und ignorierte damit Josephs Anweisung, nicht zuviel zu sagen. Als sie sich anschickte, über die Straße zu gehen und die Ansichtskarten einzustecken, hatte Charlie das Gefühl, beobachtet zu werden, doch als sie herumfuhr und sich dabei selbst vormachte, dass sie Joseph treffen würde, sah sie nur den strohblonden Hippie-Jungen wieder, dem es gefiel, der Familie nachzuschleichen, und der bei Alastairs Abreise dabei gewesen war. Er schlenderte wie benebelt hinter ihr den Bürgersteig entlang und ließ die Arme baumeln wie ein Affe. Als er sie sah, hob er langsam mit einer Geste wie Christus die Hand zum Gruß. Lachend winkte sie zurück. Der verrückte Hund muss einen schlechten Trip gehabt haben und kommt nicht wieder auf den Boden, dachte sie nachsichtig, als sie die Karten nacheinander in den Briefkasten warf. Vielleicht sollte ich seinetwegen was unternehmen.
Die letzte Karte war an Alastair gerichtet, voll von verlogenem Gefühl, doch sie las sie nicht noch einmal durch. Manchmal, besonders in Augenblicken der Unsicherheit oder Veränderung oder wenn sie im Begriff stand, etwas zu wagen, gefiel sie sich in der Überzeugung, ihr lieber, hoffnungsloser, dem Alkohol ergebener Ned Quilley, der beim nächsten Geburtstag hundertvierzig wurde, sei der einzige Mann, den sie jemals wirklich geliebt habe.