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»Wer will sich denn beschweren?« wollte Kurtz wissen und klatschte sich noch mehr Wasser ins Gesicht. »Heute lügt sie für sich, und morgen lügt sie für uns. Wir brauchen doch nicht plötzlich einen Engel.«

Plötzlich gab der Fernschreiber ein ganz anderes Geratter von sich. Becker und Litvak warfen beide hellwach einen Blick darauf, doch Kurtz schien nichts gehört zu haben. Vielleicht hatte er Wasser in den Ohren.

»Für eine Frau sind Lügen ein Schutz. Sie schützt die Wahrheit, damit schützt sie ihre Keuschheit. Für eine Frau stellen Lügen so etwas wie einen Tugendbeweis dar«, verkündete Kurtz und wusch sich immer noch.

David, der vorm Telefon saß, hielt Achtung gebietend die Hand in die Höhe. »Die Botschaft in Athen, Marty«, sagte er. »Sie wollen eine Meldung aus Jerusalem durchgeben.« Kurtz zögerte. »Sag ihnen, sie sollen loslegen«, erklärte er dann widerstrebend.

»Nur für Sie allein bestimmt«, sagte David, erhob sich und ging durch das Zimmer.

Der Fernschreiber ruckte. Kurtz warf sich sein Handtuch um den Hals und nahm auf Davids Stuhl Platz; er legte eine Diskette ein und beobachtete, wie der Klartext erschien. Der Fernschreiber hörte auf zu tickern. Kurtz las die Meldung, riss das Blatt dann von der Rolle und las sie nochmals. Dann stieß er ein zorniges Lachen aus. »Eine Botschaft von allerhöchster Stelle«, verkündete er bitter. »Die große Krähe sagt, wir sollen uns als Amerikaner ausgeben. Ist das nicht lieb? ›Sie dürfen ihr gegenüber in keiner Weise zugeben, dass Sie israelische Bürger sind, die in offiziellem oder fast offiziellem Auftrag handeln.‹ Ich könnte die Leute in Jerusalem küssen! Wie konstruktiv, wie hilfreich! Und genau zum richtigen Zeitpunkt! Misha Gavron, wie er leibt und lebt - unnachahmlich! Nie in meinem Leben habe ich für jemand gearbeitet, auf den man sich so felsenfest verlassen konnte. Kabele zurück: ›Ja, wiederhole: nein‹ «, herrschte er den verdatterten jungen David an und reichte ihm das abgerissene Blatt. Dann kehrten die drei Männer gemeinsam auf die Bühne zurück.

Kapitel 7

Um seine kleine Unterhaltung mit Charlie wieder aufzunehmen, hatte Kurtz sich für einen Ton wohlwollender Endgültigkeit entschieden, als gehe es ihm nur noch darum, ein paar letzte strittige Punkte zu klären, ehe er zu anderen Dingen überging.

»Charlie, nochmals zu Ihren Eltern«, sagte er. Litvak hatte einen Ordner aus der Aktenmappe gezogen und hielt ihn so, dass Charlie nichts erkennen konnte.

»Ja, zu den Eltern«, sagte sie und griff mutig nach einer Zigarette. Kurtz ließ sich nicht zur Eile antreiben und studierte bestimmte Unterlagen, die Litvak ihm in die Hand gedrückt hatte. »Kehren wir zur Schlussphase im Leben ihres Vaters zurück, sein Zusammenbruch, die finanzielle Schande, sein Tod und so weiter. Können Sie uns noch einmal genau sagen, in welcher Reihenfolge sich das alles abspielte? Sie besuchten ein englisches Internat. Die schreckliche Nachricht kam. Von da an weiter, bitte.« Sie begriff nicht ganz, was er wollte. »Von wo an?«

»Die Nachricht trifft ein. Von da an weiter.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich wurde rausgeschmissen, fuhr nach Haus, dort wimmelte es von Gerichtsvollziehern; wie Ratten. Aber das hatten wir doch schon alles, Marty. Was soll denn noch sein?«

»Die Internatsleiterin ließ Sie kommen, haben Sie gesagt«, erinnerte Kurtz sie nach einer Pause. »Schön. Was hat sie also gesagt? Den genauen Wortlaut, bitte?«

»›Tut mir leid, aber ich habe die Hausmutter angewiesen, Ihre Sachen zu packen. Wiedersehn und viel Glück!‹ Soweit ich mich erinnere.«

»Ach, daran erinnern Sie sich?« sagte Kurtz mit trockenem Humor, lehnte sich vor und warf nochmals einen Blick in Litvaks Papiere. »Keine Moralpredigt von ihr über die Verderbtheit der bösen Welt draußen?« fragte er immer noch lesend. »Kein ›Wirf dich nicht zu leicht weg‹ oder so? Nein? Keinerlei Erklärung, wieso und warum, als man Sie aufforderte zu gehen?«

»Das Schulgeld war ja schon seit zwei Semestern nicht mehr bezahlt worden - ist das nicht Grund genug? Für sie war das schließlich ein Geschäft, Marty. Sie mussten an ihr Bankkonto denken. Es war eine Privatschule, vergessen Sie das nicht.« Sie ließ durchblicken, dass sie müde sei. »Meinen Sie nicht, wir sollten’s für heute genug sein lassen? Ich weiß auch nicht, wieso, aber ich komme mir ziemlich gerädert vor.«

»Oh, das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sind ausgeruht, und Sie haben Reserven. Sie sind also nach Hause. Mit der Bahn?« »Bis nach Hause per Bahn. Und ganz allein. Mit meinem Köfferchen. Auf dem Nachhause-Weg.« Sie streckte sich und sah sich lächelnd im Raum um, doch Joseph hatte den Kopf abgewandt. Er schien einer anderen Musik zuzuhören.

»Sie sind also nach Hause und haben dort was genau vorgefunden?«

»Das totale Chaos, wie ich Ihnen schon sagte.«

»Könnten Sie dieses Chaos bitte ein bisschen genauer beschreiben?«

»Möbelwagen auf der Auffahrt. Männer in Schürzen. Mutter in Tränen aufgelöst. Mein halbes Zimmer schon ausgeräumt.«

»Und wo war Heidi?«

»Jedenfalls nicht da. Nicht vorhanden. Zählte nicht zu denen, die dabei waren.«

»Und keiner hat nach ihr geschickt? Ihre ältere Schwester, der Augapfel Ihres Vaters? Die nur zwanzig Kilometer entfernt wohnte? Warum ist denn Heidi nicht gekommen, um zu helfen?«

»Wahrscheinlich, weil sie schwanger war«, erklärte Charlie sorglos und betrachtete wieder ihre Hände. »Das ist sie normalerweise immer.«

Aber Kurtz blickte Charlie an und nahm sich eine Menge Zeit, ehe er überhaupt etwas sagte. »Wer, haben Sie gesagt, war bitte schwanger?« fragte er, als ob er nicht gehört hätte.

»Heidi.«

»Charlie, Heidi war nicht schwanger. Zu Heidis erster Schwangerschaft kam es erst im Jahr darauf.«

»Ja, gut, dann war sie eben mal nicht schwanger.«

»Warum ist sie also nicht gekommen, um der Familie ein bisschen zur Hand zu gehen?«

»Vielleicht wollte sie es nicht wissen. Sie kam jedenfalls nicht, das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Marty, um Himmels willen, die ganze Sache ist schließlich zehn Jahre her. Ich war noch ein Kind, ein ganz anderer Mensch.« »Wegen der Schande, was? Heidi konnte die Schande nicht ertragen. Die des Bankrotts Ihres Vaters, meine ich.« »Was für eine Schande soll es denn sonst gegeben haben?« gab sie schnippisch zurück.

Kurtz fasste ihre Frage rhetorisch auf. Er beschäftigte sich wieder mit seinen Papieren, sah, dass Litvaks langer Finger auf etwas zeigte. »Jedenfalls ließ Heidi sich nicht blicken, und die ganze Verantwortung, mit der Familienkrise fertig zu werden, lastete auf Ihren jungen Schultern, stimmt’s? Die eben sechzehnjährige Charlie, aufgerufen, die Retterin zu spielen. Ihr Intensivkurs über die Anfälligkeit des kapitalistischen Systems, wie Sie es vor noch nicht langer Zeit mal so hübsch ausgedrückt haben. ›Ein Anschauungsunterricht, den man nie wieder vergisst.‹ Sie mussten mit ansehen, wie sämtliche Fetische der Konsumgesellschaft - hübsche Möbel - hübsche Kleider - sämtliche Attribute bürgerlicher Wohlanständigkeit -praktisch vor Ihren Augen auseinander genommen und weggeschafft wurden. Sie ganz allein. Mussten damit fertig werden. Den Haushalt auflösen. Waren unbestritten diejenige, die die Angelegenheit Ihrer rührend bourgeoisen Eltern in die Hand nahm, die von Rechts wegen der Arbeiterklasse hätten angehören sollen, aber so bedenkenlos waren, es nicht zu tun. Die sie tröstete. Die ihnen half, ihre Schande zu ertragen. Ich nehme an, es war, als ob Sie ihnen die Absolution erteilten. Verdammt schwer«, setzte er traurig hinzu. »Wahrhaftig kein Kinderspiel.« Er hielt inne, wartete darauf, dass sie etwas sagte.

Doch das tat sie nicht. Sie hielt schweigend seinem Blick stand. Sie konnte gar nicht anders. Seine tief eingekerbten Gesichtszüge verhärteten sich, besonders um die Augen herum, auf merkwürdige Weise. Trotzdem hielt sie seinem Blick stand, auf ganz besondere Art; sie hatte, noch aus der Kindheit, eine Art, ihr Gesicht gleichsam zu einem eisigen Bild erstarren zu lassen und dabei anderen Gedanken nachzuhängen. Und gewann, wusste, dass sie Siegerin blieb, denn es war Kurtz, der als erster wieder das Wort ergriff, und das war der Beweis. »Charlie, wir sind uns darüber im klaren, dass dies alles sehr schmerzlich für Sie ist; trotzdem bitten wir Sie, mit Ihren eigenen Worten fortzufahren. Da ist also der Möbelwagen. Wir sehen, dass Ihre Sachen aus dem Haus herausgeschafft werden. Was sehen wir noch?«