»Es waren ja nicht nur er und ich da«, begehrte sie auf. »Da waren - mein Gott! - zwanzig von uns. Junge Leute, Schauspieler. Manche besuchten sogar noch die Schauspielschule. Man mietete einen Bus, man haschte ein bisschen, und man spielte bis zum Morgen Wechsel-die-Bettchen. Was soll daran weiter schlimm sein?«
Kurtz hatte im Moment keine Meinung dazu, was schlimm war und was nicht.
»Man«, sagte er. »Aber was haben Sie getan? Den Bus gefahren? Wo Sie doch eine so großartige Autofahrerin sind, wie wir hören.«
»Ich habe Al begleitet. Wie ich schon sagte. Es war seine Szene, nicht meine.« Sie hatte den Halt verloren und fiel. Sie wusste kaum, wie sie abgerutscht war oder wer ihr auf die Finger getreten hatte. Vielleicht hatte sie auch nur die Müdigkeit überwältigt, und sie hatte deshalb losgelassen. Vielleicht hatte sie das aber auch schon die ganze Zeit über gewollt.
»Und wie oft, meinen Sie, haben Sie sich so was gegönnt, Charlie? Hitzige Reden zu führen? Hasch zu rauchen? In aller Unschuld in freier Liebe zu machen, während andere sich einer Terroristenausbildung unterzogen? Sie reden, als ob es so was alle Tage gegeben hätte. Stimmt das? War so was üblich?«
»Nein, es war nicht üblich! Das ist aus und vorbei, und ich habe mir so was nicht gegönnt.«
»Möchten Sie uns sagen, wie häufig so was vorkam?«
»Es ist auch nicht häufig vorgekommen.«
»Wie oft?«
»Ein paarmal. Das ist alles. Dann bekam ich kalte Füße.« Sie fiel, geriet ins Trudeln, und das Dunkel verdichtete sich. Überall um sie herum Luft, ohne sie freilich zu berühren. Joseph, hol mich hier raus! Aber Joseph hatte sie ja gerade reingezogen. Sie horchte auf seine Stimme, sandte ihm mit dem Hinterkopf kleine Botschaften, aber er reagierte nicht. Kurtz sah sie unbewegt an, und sie erwiderte seinen Blick unbewegt. Sie hätte geradenwegs durch ihn hindurch gesehen, wäre sie dazu imstande gewesen; am liebsten hätte sie ihn mit ihrem trotzigen Funkeln geblendet.
»Ein paarmal«, wiederholte er nachdenklich. »Richtig, Mike?«
Litvak sah von seinen Notizen auf. »Ein paarmal«, wiederholte er echogleich.
»Wollen Sie uns denn erzählen, warum Sie kalte Füße bekommen haben?« fragte Kurtz. Ohne den Blick von ihr zu lassen, griff er nach Litvaks Hefter.
»Es war eine harte Szene«, sagte sie, plötzlich leise, wegen der Wirkung.
»Hört sich so an«, sagte Kurtz und schlug den Hefter auf. »Ich meine aber nicht politisch. Ich meine, was den Sex betrifft. Das war mir einfach zuviel. Seien Sie doch nicht so schwer von Begriff.«
Kurtz leckte sich den Daumen und blätterte eine. Seite um; leckte sich den Daumen und blätterte noch eine um; flüsterte Litvak etwas zu, der daraufhin ein paar Worte hauchte - und zwar nicht auf englisch. Er klappte den bräunlichen Ordner zu und ließ ihn in die Aktenmappe gleiten. »›Ein paarmal. Das war alles. Dann bekam ich
kalte Füße‹ «, intonierte er nachdenklich. »Wollen Sie diese Aussage in irgendeiner Weise revidieren?«
»Warum sollte ich?«
»›Ein paarmal.‹ Richtig?«
»Warum denn nicht?«
»Ein paarmal - das heißt: zweimal, stimmt’s?«
Das Licht über ihr verschwamm - oder schwamm ihr Kopf? Mit Bedacht drehte sie sich auf dem Stuhl um. Joseph saß über seinen Tisch gebeugt, viel zu beschäftigt, um auch nur aufzublicken. Sie wandte sich wieder ab und stellte fest, dass Kurtz immer noch wartete.
»Zwei- oder dreimal«, sagte sie. »Was soll das denn?«
»Und viermal? Kann ›ein paarmal‹ auch viermal bedeuten?«
»Ach, hören Sie doch auf!«
»Ich nehme an, das ist eine Sache der Linguistik. ›Ich habe meine Tante voriges Jahr ein paarmal besuchte Das könnte auch viermal bedeuten. Fünfmal wäre wohl das Äußerste. Bei fünfmal redet man schon von einem halben dutzendmal.« Langsam blätterte er in seinen Unterlagen. »Wollen Sie dieses ›ein paarmal‹ revidieren und ›ein halbes dutzendmal« draus machen, Charlie?«
»Ich habe ›ein paar Mal‹ gesagt und meine ›ein paar Mal‹.«
»Zweimal?«
»Ja, zweimal.« »Also zweimal. Jawohl, ich habe nur zweimal an so einem Wochenend-Seminar teilgenommen. Andere mögen an der kriegerischen Ausbildung teilgenommen haben, meine Interessen lagen auf sexuellem und gesellschaftlichem Gebiet. Mir ging es um die Erholung. Amen.‹ Gezeichnet: Charlie. Könnten Sie noch den genauen Zeitpunkt für die beiden Male angeben?«
Sie nannte ein Datum im vorigen Jahr, kurz nachdem Al und sie sich zusammengetan hatten. »Und das andere Mal?« »Das habe ich vergessen. Was spielt es für eine Rolle?«
»Sie hat es vergessen.« Er sprach so langsam, dass seine Stimme fast zum Stillstand kam, ohne indes etwas von ihrer Macht einzubüßen. Ihr war, als schliche sie wie ein plumpes Tier auf sie zu. »Ist es zum zweiten Mal bald nach dem ersten Mal gekommen, oder lag ein langer Zeitraum dazwischen?«
»Ich weiß es nicht mehr!«
»Sie weiß es nicht. Das erste Wochenende war ein Einführungsseminar für Anfänger, stimmt’s?«
»Ja.«
»In was wurden Sie denn eingeführt?«
»Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt - in Gruppensex.«
»Keine Diskussionen, keine Seminare, keine Unterweisungen?« »Es hat Diskussionen gegeben, doch.« »Über welche Themen, bitte?« »Über Grundprinzipien.« »Von was?«
»Radikalismus - was denken Sie denn?« »Wissen Sie noch, wer zu Ihnen gesprochen hat?«
»Eine Lesbe mit fleckigem Gesicht über Women’s Lib. Ein Schotte über Kuba, jemand, den Al bewunderte.« »Und bei der anderen Gelegenheit - von der Sie nicht mehr wissen, wann es war, bei der zweiten und letzten Gelegenheit -, wer hat da Vorträge gehalten?«
Keine Antwort. - »Auch vergessen?«
»Ja!«
»Das ist ungewöhnlich, nicht wahr, dass Sie sich an das erstemal genau erinnern - den Sex, die Diskussionsthemen, die Seminarleiter. Und beim zweitenmal an überhaupt nichts?«
»Nachdem ich die ganze Nacht auf war und Ihnen Ihre verrückten Fragen beantwortet habe - nein, überhaupt nicht ungewöhnlich.«
»Wohin wollen Sie?« fragte Kurtz. »Möchten Sie ins Badezimmer? Rachel, bring Charlie ins Badezimmer! Rose!« Sie war aufgestanden. Aus den Schatten hörte sie weiche Füße auf sich zukommen.
»Ich haue ab. Nehme meine Optionen wahr. Ich will raus hier! Und zwar jetzt.«
»Ihre Optionen können Sie nur in ganz bestimmten Phasen wahrnehmen, und zwar dann, wenn Sie von uns dazu aufgefordert werden. Wenn Sie schon vergessen haben, wer beim zweiten Seminar, an dem Sie teilgenommen haben, die Diskussion geleitet hat, sagen Sie mir wenigstens, um was es dabei ging.«
Sie stand immer noch, und irgendwie machte sie das kleiner. Sie blickte sich um und sah Joseph, der sich - das Kinn auf gestützt - aus dem Lampenlicht herausgedreht hatte. Für ihre angsterfüllten Augen schien er in einer Art Mittelbereich zu schweben, Kurtz’ Stimme füllte weiterhin ihren Kopf und brachte die Menschen darin zum Schweigen. Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sie beugte sich vor; sie befand sich in einer merkwürdigen Kirche, ohne Freunde, um sie zu beraten, wusste nicht, ob sie stehen oder knien sollte. Doch Kurtz’ Stimme war überall, und es hätte keine Rolle gespielt, ob sie sich auf den Boden gelegt oder durch das Butzenglasfenster entschwebt oder hundert Meilen fort gewesen wäre - nirgends war man sicher vor dem betäubenden Klang dieser sie bedrängenden Stimme. Sie nahm die Hände vom Tisch, verschränkte sie hinter dem Rücken, hielt sie fest, weil sie die Gewalt über ihre Gesten verlor. Hände spielen eine Rolle. Hände sprechen. Hände handeln. Sie spürte, wie sie sich gegenseitig trösteten wie verängstigte Kinder. Kurtz fragte sie nach einer Resolution. »Haben Sie sie nicht unterschrieben, Charlie?«
»Das weiß ich nicht!«
»Aber, Charlie, nach Beendigung eines solchen Seminars gehen doch immer Resolutionen herum. Es wird diskutiert. Und eine Resolution verabschiedet. Um was ging es bei dieser Resolution? Wollen Sie mir etwa im Ernst sagen, Sie wüssten nicht, um was es dabei ging, wüssten nicht, ob Sie sie unterschrieben haben oder nicht? Hätten Sie sich denn überhaupt weigern können, sie zu unterschreiben?«