»Und da ist er«, sagte sie leise. »Himmel, ist das kitschig!«
»Aber es haut hin.«
»Oh ja, hinhauen tut es schon.«
»Denn er ist da, sitzt immer noch auf demselben Platz, erste Reihe Mitte. Und starrt auf den Vorhang, als ob er ihn dadurch bewegen könnte, nochmals aufzugehen und ihm den Blick auf die Erscheinung seiner Johanna freizugeben, den Geist seiner Freiheit, die Frau, die er unendlich liebt.«
»Ich finde das schrecklich«, brummte Charlie, doch er ging nicht darauf ein.
»Sitzt auf demselben Platz, auf dem er nun schon seit sieben Stunden gesessen hat.«
Ich möchte nach Hause, dachte sie. Lange schlafen, ganz allein, im Astral Commercial and Private. Wie vielen Schicksalen kann ein Mädchen an einem einzigen Tag begegnen? Denn sie konnte nicht mehr länger jenen Unterton von Selbstsicherheit und wachsender Zudringlichkeit überhören, den er hatte, wenn er ihren neuen Verehrer beschrieb.
»Du zauderst, dann rufst du seinen Namen. ›Michel!‹ Einen anderen Namen kennst du ja nicht. Er dreht sich um und sieht dich an, aber er steht nicht auf. Weder lächelt er, noch begrüßt er dich oder entfaltet auf irgendeine Weise seinen umwerfenden Charme.«
»Was tut er dann, der Lump?«
»Nichts. Er starrt dich mit seinen tiefen leidenschaftlichen Augen an, fordert dich heraus zu sprechen. Vielleicht hältst du ihn für arrogant, vielleicht auch für romantisch, aber er hat nichts Gewöhnliches, ist auf keinen Fall schüchtern oder bringt irgendwelche Entschuldigungen vor. Er ist gekommen, weil er Anspruch auf dich erhebt. Er ist jung, kosmopolitisch, gut angezogen. Ein Mann, mit Geld, der viel unterwegs ist, jemand, der keinerlei Verlegenheit kennt. Schön.« Er ging zur ersten Person über. »Du kommst den Mittelgang herunter auf mich zu, merkst schon, dass die Szene sich nicht so entwickelt, wie du erwartet hast. Anscheinend hast du die Erklärungen abzugeben, nicht ich. Du holst das Armband aus der Tasche. Du reichst es mir. Ich mache keine Bewegung. Steht dir gut, wie der Regen von dir runtertropft.«
Die gewundene Straße führte sie hügelan. Seine gebieterische Stimme in Verbindung mit dem elektrisierenden Rhythmus der ständig aufeinander folgenden Kurven trieb sie weiter und immer weiter ins Labyrinth seiner Geschichte hinein.
»Du sagst etwas. Was sagst du?« Da von ihr nichts kam, antwortete er an ihrer Stelle. »›Ich kenne dich nicht. Danke, Michel, ich fühle mich geehrt. Aber ich kenne dich nicht und kann dieses Geschenk unmöglich annehmen.‹ Würdest du das sagen; Ja, das würdest du wohl. Nur vielleicht besser.«
Sie hörte ihn kaum. Sie stand im Zuschauerraum vor ihm, hielt ihm das Etui hin, blickte ihm in die dunklen Augen. Und meine neuen Stiefel, dachte sie; die langen braunen, die ich mir zu Weihnachten gekauft habe. Vom Regen ruiniert, aber was soll’s? Joseph spann sein Märchen weiter aus. »Ich sage immer noch kein Wort. Deine Bühnenerfahrung sagt dir, dass nichts besser geeignet ist, eine Beziehung herzustellen, als Schweigen. Wenn der unselige Kerl nicht den Mund aufmacht, was sollst du tun? Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als deinerseits wieder das Wort zu ergreifen. Erzähl mir, was du diesmal zu mir sagst.«
Eine gewöhnliche Schüchternheit lag im Widerstreit mit ihrer sich regenden Phantasie. »Ich frage ihn, wer er ist.«
»Ich heiße Michel.«
»Das weiß ich ja schon. Michel und?«
»Keine Antwort.« »Ich frage dich, was du in Nottingham machst.«
»Mich in dich verlieben. Weiter.«
»Himmel, Joseph...«
»Weiter!«
»Das kann er doch nicht zu mir sagen!«
»Dann sag ihm das.«
»Ich dringe in ihn. Flehe ihn an.«
»Dann lass hören, wie du das machst - er wartet auf dich, Charlie! Sprich mit ihm.« »Ich würde sagen…« »Ja?«
»›Hör zu Michel…das ist zwar sehr nett von dir…und ich fühle mich auch geehrt. Aber tut mir leid - es ist einfach zuviel.‹ «
Er war enttäuscht. »Aber Charlie, das musst du schon besser machen«, hielt er ihr streng vor. »Er ist Araber- auch, wenn du das bis jetzt noch nicht weißt, du ahnst es doch -, und du weist sein Geschenk zurück. Da musst du dich schon ein bisschen mehr anstrengen.«
»›Es wäre dir gegenüber nicht fair, Michel. Es kommt öfter vor, dass Menschen sich wegen Schauspielerinnen - oder Schauspielern - in was hineinsteigern. So was kommt alle Tage vor. Aber das ist doch noch kein Grund, sich zu ruinieren…nur für eine…Illusion‹ «
»Gut. Weiter!«
Es ging ihr jetzt leichter von den Lippen. Sie hasste, dass er sie einschüchterte und tyrannisierte, so wie sie das bei jedem Regisseur hasste; allerdings, die Wirkung war nicht zu leugnen. »›Bei der Schauspielerei geht es doch um nichts anderes, Michel. Illusionen. Die Zuschauer sitzen unten und möchten sich verzaubern lassen. Und wir Schauspieler stehen oben und möchten euch verzaubern. Diesmal ist es gelungen. Aber deshalb kann ich dies noch lange nicht annehmen. Es ist wunderschön.‹ « Sie meinte das Armband. »›Viel zu schön. Ich kann überhaupt nichts annehmen. Wir haben euch genarrt. Weiter ist doch nichts geschehen. Theater ist ein großer Schwindel, Michel. Verstehst du, was das bedeutet? Schwindel? Es wird dir was vorgemacht.‹ «
»Ich sage immer noch nichts.«
»Dann bring ihn eben dazu.«
»Warum? Geht dir jetzt schon die Überzeugungskraft aus? Fühlst du dich denn nicht für mich verantwortlich? Ein junger Mann - ein so hübscher Kerl -, der Geld für Orchideen und teuren Schmuck rauswirft?«
»Selbstverständlich tu’ ich das. Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Dann bewahre mich davor.« Er war ungeduldig, ließ sich nicht davon abbringen. »Rette mich vor meiner Verblendung.«
»Das versuche ich ja!«
»Dieses Armband hat mich viele hundert Pfund gekostet -sogar du kannst dir das denken. Vielleicht sogar Tausende. Vielleicht habe ich es auch für dich gestohlen. Jemand dafür umgebracht. Mein Erbe verpfändet. Alles für dich. Ich bin wie berauscht, Charlie! Erbarm dich! Üb deine Macht aus.«
Im Geiste hatte Charlie sich auf den Platz neben Michel gesetzt. Die Hände im Schoß gefaltet, lehnte sie sich vor, um ihm ernst ins Gewissen zu reden. Sie war wie eine Krankenschwester zu ihm, wie eine Mutter. Eine Freundin.
»Ich erkläre ihm, dass er enttäuscht wäre, wenn er mich in Wirklichkeit kennen würde.«
»Die genauen Worte, bitte.«
Sie holte tief Atem und wagte den Sprung: »›Schau, Michel, ich bin ein ganz gewöhnliches Mädchen. Ich hab’ zerrissene Schlüpfer an, und mein Bankkonto ist überzogen, vor allem aber bin ich keine Jeanne d’Arc, glaub mir. Ich bin weder Jungfrau noch Soldat, und der liebe Gott und ich haben kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit sie mich aus der Schule geworfen haben, weil‹ - das werde ich jetzt nicht sagen - ›ich Charlie bin, ein nichtswürdiges kleines europäisches Luder.‹ «
»Ausgezeichnet. Weiter!«
»›Michel, du musst dir das aus dem Kopf schlagen. Ich meine, ich tu’, was ich kann, um dir dabei zu helfen, einverstanden? Also, nimm dies hier zurück, behalt dein Geld und deine Illusionen - und vielen Dank. Ehrlich, vielen, vielen Dank. Aus und Abgang.‹ «
»Aber du willst doch gar nicht, dass er seine Illusionen behält«, wandte Joseph trocken ein. »Oder doch?« »Schön, soll er seine Scheiß-Illusionen aufgeben!«
»Und wie geht es nun zu Ende?«
»So wie eben. Ich hab’ das Armband auf den Sitz neben ihm gelegt und bin raus. Vielen Dank, Welt, und Wiedersehn! Wenn ich mich beeile, erwische ich vielleicht noch den Bus und komme gerade noch rechtzeitig zum Gummi-Huhn im Astral.«
Joseph war erschrocken. Sein Gesichtsausdruck verriet das, und seine Linke ließ in einer unbezahlbaren, wenn auch knappen, flehentlichen Geste das Lenkrad los.
»Aber Charlie, wie kannst du nur? Bist du dir denn nicht darüber im klaren, dass du mich vielleicht dazu bringst, Selbstmord zu begehen? Oder die ganze Nacht durch die verregneten Nottinghamer Straßen zu irren? Allein? Während du neben meinen Orchideen und meinem Briefchen in der Wärme deines eleganten Hotels liegst?«