Auf der Hügelspitze hoch über dem Kloster ließ Joseph seinen Feldstecher sinken und kehrte zu dem wartenden Lieferwagen zurück.
»Ladung auf den Weg gebracht«, sagte er kurz angebunden zu David, der die Wörter gehorsam in seinen Apparat tippte. Für Becker hätte er alles getippt - alles riskiert, jeden erschossen. Becker war für ihn eine lebende Legende, vollkommen in all seinen Fähigkeiten, jemand, dem er unermüdlich nacheifern sollte. »Marty erwidert: Gratuliere«, sagte der junge Mann ehrfürchtig. Doch der große Becker schien ihn nicht zu hören.
Sie fuhr eine Ewigkeit. Sie fuhr, die Arme schmerzten, weil sie das Steuer zu fest gepackt hatte, und der Nacken tat ihr weh, weil sie die Beine zu steif hielt. Sie fuhr, und ihr wurde flau im Magen, weil sie die Bauchmuskeln zu wenig anspannte. Dann wieder wurde ihr flau, weil sie zuviel Angst hatte. Dann noch flauer, als der Motor stotterte und sie dachte: Hurra, jetzt haben wir eine Panne. Sollte das geschehen, gib ihn einfach auf, hatte Joseph gesagt. Fahr ihn in eine Abzweigung, lass dich per Anhalter mitnehmen, verlier die Papiere und nimm einen Zug. Vor allem aber mach, dass du so weit wie möglich von dem Ding wegkommst. Nur, jetzt, nachdem sie einmal unterwegs war, glaubte sie nicht, dass sie das tun könnte: das wäre ja, als ob sie mitten in einer Aufführung von der Bühne liefe. Zuviel Musik machte sie ganz taub, und so stellte sie das Radio ab und wurde nun taub von dem Geratter der Lastwagen. Sie war in einer Sauna, sie fror sich zu Tode, sie sang. Es gab kein Vorankommen, nur Unterwegssein. Aufgeräumt plauderte sie mit ihrem toten Vater und ihrer Scheiß-Mutter: »Tja, ich hab’ da diesen bezaubernden Araber kennen gelernt, Mutter, phantastisch gut erzogen und schrecklich reich und kultiviert; wir haben in einer Tour nur gevögelt, von morgens bis abends und wieder zurück…« Sie fuhr, ihr Gehirn war leergefegt, und bewusst hing sie keinen Gedanken nach. Sie zwang sich, nur an der Oberfläche der Erfahrung zu bleiben. Ach, schau, ein Dorf, oh, sieh mal, ein See, dachte sie und gestattete sich nie, zu dem darunter liegenden Chaos durchzustoßen. Ich bin frei und entspannt und genieße einfach in vollen Zügen. Mittags aß sie Obst und Brot, das sie am Kiosk einer Tankstelle gekauft hatte. Und Eis - sie hatte plötzlich einen Heißhunger auf Eis, wie eine Schwangere. Gelbes, wässriges jugoslawisches Eis mit einem Mädchen mit strotzenden Brüsten auf dem Einwickelpapier. Einmal fuhr sie an einem jungen Anhalter vorüber und verspürte den überwältigenden Drang, sich über Josephs Befehl hinwegzusetzen und ihn mitzunehmen. Ihre Einsamkeit war plötzlich so grauenvoll, dass sie zu allem bereit gewesen wäre, ihn bei sich zu behalten: ihn in einer der kleinen Kapellen auf den baumlosen Hügeln zu heiraten, ihn im gelben Gras am Straßenrand zu vergewaltigen. Aber kein einziges Mal in all den Jahren und auf all den Kilometern, die sie fuhr, gestand sie sich ein, dass sie zweihundert Pfund erstklassigen russischen Plastik-Sprengstoff durch Jugoslawien schmuggelte, in Halb-Pfund-Stäbe aufgeteilt und in Volant, Verstrebungen, Deckenverkleidung und Sitzen versteckt. Noch dass ein älteres Modell vorteilhafterweise Kastensegmente und Träger hatte. Noch dass es sehr guter Stoff war, ordentlich gepflegt, imstande, große Hitze und Kälte zu ertragen und bei allen Temperaturen einigermaßen schmiegsam.
Fahr weiter, Mädchen, sagte sie sich immer wieder entschlossen, manchmal sogar laut. Es ist ein sonniger Tag, und du bist eine reiche Hure, die den Mercedes ihres Liebhabers fährt. Sie rezitierte ihre Verse aus Wie es euch gefällt und Stellen aus der ersten Rolle, die sie überhaupt gespielt hatte. Sie rezitierte Textstellen aus der Heiligen Johanna. Doch an Joseph dachte sie überhaupt nicht; sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Israeli kennen gelernt, sich nie nach ihm gesehnt, nie um seinetwillen ihre Ansichten oder ihre Religion gewechselt oder war sein Geschöpf geworden, während sie vorgab, das Geschöpf seines Feindes zu sein; sich nie über die geheimen Kriege, die sich in ihm abspielten, gewundert oder aufgeregt.
Abends um sechs sah sie das gemalte Schild, nach dem Ausschau zu halten kein Mensch ihr aufgetragen hatte, und obwohl sie am liebsten die ganze Nacht weitergefahren wäre, sagte sie sich: »Ach, das sieht nett aus; hier versuch’ ich’s mal.« Einfach so. Sie sagte das laut, putzmunter, wahrscheinlich zu ihrer Scheiß-Mutter. Sie fuhr zwei Kilometer in die Berge hinein, und da stand es, genauso, wie der-den-es-nicht-gab es ihr beschrieben hatte: ein in eine Ruine hineingebautes Hotel mit Swimming-pool und Minigolf-Anlage. Und als sie die Halle betrat - wem musste sie da in die Arme laufen, wenn nicht ihren alten Kumpels Dimitri und Rose, die sie auf Mykonos kennen gelernt hatte. Nein, sieh doch nur, Liebling, da ist ja Charlie - was für ein Zufall! Warum essen wir nicht gemeinsam zu Abend? Sie aßen Gegrilltes am Swimmingpool und schwammen, und als der Swimming-pool geschlossen wurde und Charlie nicht schlafen konnte, spielten sie wie Gefängniswärter am Abend vor ihrer Hinrichtung in ihrem Zimmer mit ihr Scrabble. Sie döste ein paar Stunden, doch um sechs Uhr in der Frühe war sie wieder auf der Straße, und am späten Nachmittag erreichte sie die Autoschlange vor der österreichischen Grenze, wo ihr Aussehen plötzlich verzweifelt wichtig für sie wurde.
Sie trug eine ärmellose Bluse aus Michels Aussteuer; sie hatte sich das Haar gebürstet und sah in jedem ihrer drei Spiegel großartig aus. Die meisten Autos wurden einfach durchgewinkt, doch darauf durfte sie sich nicht verlassen - nicht noch einmal. Die übrigen mussten ihre Papiere vorweisen, und einige wenige wurden rausgepickt und gründlich durchsucht. Sie fragte sich, ob die Grenzbeamten willkürlich vorgingen oder ob sie vorgewarnt worden waren oder ob sie nach bestimmten, für andere nicht erkennbaren Anhaltspunkten vorgingen. Zwei Uniformierte kamen gemächlich an der Reihe der wartenden Autos entlang und blieben an jedem Wagenfenster stehen. Der eine trug eine grüne, der andere eine blaue Uniform, und der blaue hatte das Käppi schief aufgesetzt, um wie ein Flieger-As auszusehen. Sie sahen sie an und gingen dann langsam um den Wagen herum. Sie hörte, wie einer von ihnen gegen ihre Hinterreifen trat, und ums Haar hätte sie geschrieen: »Au, das tut weh!« doch sie verkniff es sich, weil Joseph, an den sie nicht zu denken wagte, gesagt hatte: Lass sie in Ruhe, halt Abstand, überleg dir, was du für nötig hältst, und halbiere das dann. Der Grünuniformierte fragte sie etwas auf Deutsch, und sie sagte »Sorry?« auf Englisch. Sie hielt ihm ihren englischen Pass hin; Beruf: Schauspielerin. Er nahm ihn, verglich sie mit dem Passbild und reichte ihn an seinen Kollegen weiter. Es waren gutaussehende junge Männer; ihr fiel erst jetzt auf, wie jung sie waren. Blond, voller Saft und Kraft, offener Blick und die ewige Bräune der Bergbewohner. Es ist Spitzenqualität, war sie in einer schrecklichen Anwandlung von Selbstvernichtung versucht zu sagen: Ich bin Charlie, nehmt mich mal genau unter die Lupe.
Vier Augen waren unablässig auf sie gerichtet, während sie ihre Fragen stellten - jetzt bist du an der Reihe, jetzt ich. Nein, sagte sie - nur hundert griechische Zigaretten und eine Flasche Ouzo. Nein, sagte sie, keine Geschenke, ehrlich. Sie sah sie nicht an, widerstand der Versuchung, mit ihnen zu flirten. Na ja, eine Kleinigkeit für ihre Mutter, aber völlig wertlos. Sagen wir: zehn Dollar. Allerweltssachen: damit sie was zum Nachdenken hatten. Sie machten ihre Tür auf und forderten sie auf, ihnen die Flasche Ouzo zu zeigen, doch sie hatte den starken Verdacht, dass sie - nachdem sie einen tiefen Blick in den Ausschnitt ihrer Bluse geworfen hatten - jetzt auch noch scharf darauf waren, ihre Beine zu sehen und festzustellen, ob alles gut zusammenpasste. Der Ouzo lag in einem Korb auf dem Boden neben ihr. Sie lehnte sich über den Beifahrersitz und holte die Flasche heraus, und während sie das tat, sprang ihr Rock auf, zu neunzig Prozent war es Zufall, doch für einen Augenblick war ihre ganze linke Hüfte bis hinauf zum Slip zu sehen. Sie hob die Flasche hoch, um sie ihnen zu zeigen, und fühlte im selben Augenblick, wie etwas Feuchtes und Kaltes auf ihr nacktes Fleisch auftraf. Himmel, jetzt haben sie mich gestochen! Sie stieß einen Schrei aus, klatschte mit der Hand auf die Stelle und erblickte dann mit Erstaunen auf ihrem Oberschenkel einen tintenblauen Einreisestempel mit dem Datum ihres Eintreffens in der Republik Österreich. Sie war so wütend, dass sie sie fast angefaucht hätte; sie war so dankbar, dass sie fast in schallendes Lachen ausgebrochen wäre. Hätte Josephs Mahnung zur Vorsicht sie nicht gebremst, sie hätte sie beide hier und jetzt für ihre unglaubliche, liebenswerte und harmlose Großzügigkeit umarmt. Sie war durch, sie hatte großes Schwein gehabt. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie die beiden Goldjungen ihr etwa fünfunddreißig Minuten lang schüchtern nachwinkten, ohne ein Auge für alle nach ihr Kommenden zu haben. Nie hatte sie Autorität so sehr geliebt.