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Salzburg hatte vom Sommer noch nichts gehört. Eine frische Frühlingsluft fegte von den Bergen herunter, und die Salzach roch nach Meer. Wie sie dorthin gekommen waren, war für sie immer noch zur Hälfte ein Rätsel, denn sie hatte unterwegs immer wieder geschlafen. Von Graz waren sie nach Wien geflogen, doch hatte der Flug für sie nur fünf Sekunden gedauert; sie musste also im Flugzeug geschlafen haben. In Wien wartete ein Leihwagen auf ihn, ein flotter BMW. Wieder hatte sie geschlafen, und als sie in die Stadt hineinfuhren, glaubte sie für einen Augenblick, der Wagen müsse brennen, doch war es nur die Abendsonne, die sich im roten Lack brach, als sie die Augen aufmachte.

»Wieso denn überhaupt Salzburg?« hatte sie ihn gefragt. Weil es eine von Michels Städten sei, hatte er erwidert. Und weil es auf dem Weg liegt.

»Auf dem Weg wohin?« fragte sie, wieder einmal betroffen von seiner Zurückhaltung.

Ihr Hotel hatte einen überdachten Innenhof mit alten, vergoldeten Geländern und Topfpflanzen in Marmorgefäßen. Ihre Zimmer gingen auf den rasch dahin fließenden braunen Fluss hinaus; dahinter mehr Kuppeln als im Himmel. Jenseits der Kuppeln erhob sich die Burg mit der Seilbahn, deren Kabinen den Berg hinauf- und hinunterglitten.

»Ich muss unbedingt einen Spaziergang machen«, sagte sie. Sie nahm ein Bad und schlief in der Wanne ein, und er musste an die Tür hämmern, um sie zu wecken. Sie zog sich an, und wieder wusste er, was sie sich ansehen sollte und welche Dinge ihr am meisten gefielen.

»Es ist unsere letzte Nacht, nicht wahr?« sagte sie, und diesmal versteckte er sich nicht hinter Michel.

»Ja, es ist unsere letzte Nacht, Charlie; morgen müssen wir noch einen Besuch machen, und dann kehrst du nach London zurück.« Sie umklammerte seinen Arm mit beiden Händen und streifte mit ihm durch die engen Gassen und Plätze, die ineinander übergingen wie Wohnräume. Sie standen vor Mozarts Geburtshaus, und die Touristen erschienen ihr wie das Publikum einer Matinee-Vorstellung: fröhlich und ahnungslos.

»Ich hab’s gut gemacht, nicht wahr, Jose? Ich habe meine Sache wirklich gut gemacht. Sag’s mir!«

»Du hast es ganz ausgezeichnet gemacht«, sagte er - doch irgendwie bedeutete ihr seine Zurückhaltung mehr als sein Lob. Die Spielzeug-Kirchen waren schöner als alles, was sie je gesehen hatte; sie hatten prächtige, vergoldete Altäre, wollüstige Engel und Grabmale, in denen die Toten immer noch von Freuden des Diesseits zu träumen schienen. Ein Jude, der sich als Moslem ausgibt, zeigt mir mein christliches Erbe, dachte sie. Doch als sie Näheres von ihm wissen wollte, war das Äußerste, wozu er bereit war, ihr einen auf Hochglanzpapier gedruckten Fremdenführer zu kaufen und die Rechnung in die Brieftasche zu stecken. »Ich fürchte, Michel hat bis jetzt noch nicht die Zeit gefunden, sich aufs Barock zu stürzen«, erklärte er auf seine trockene Art. Und doch spürte sie in ihm die Schatten irgendeiner unerklärten Hemmung.

»Sollen wir jetzt zurückgehen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Lass es doch noch dauern. Es wurde dunkler, die Menge zerstreute sich; aus Toren, wo man es überhaupt nicht erwartet hätte, drang der Gesang von Chorknaben. Sie saßen am Fluss und lauschten auf die tauben alten Glocken, die unverdrossen miteinander um die Wette läuteten. Sie gingen weiter, und plötzlich war sie so schlapp, dass sie seinen Arm um die Hüfte brauchte, bloß um sich aufrecht zu halten.

»Essen«, befahl sie, als er sie in den Aufzug führte. »Champagner. Musik.«

Doch als er die Zimmerbedienung angerufen hatte, lag sie schon fest schlafend auf dem Bett, und nichts auf Gottes Erdboden, nicht einmal Joseph, würde sie wecken.

Sie lag da, wie sie auf Mykonos im Sand gelegen hatte: den linken Arm angewinkelt und das Gesicht in die Armbeuge gedrückt; und Becker saß auf dem Lehnstuhl und wachte über sie. Der erste schwache Schimmer des grauenden Tages drang durch die Vorhänge. Es roch nach frischem Laub und Holz. In der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, so laut und plötzlich, als ob ein Expresszug das Tal heraufgedonnert wäre. Vom Fenster aus hatte er beobachtet, wie die Stadt unter dem langen und langsamen Angriff der Blitze zusammenzuckte und der Regen auf die schimmernden Kuppeln prasselte. Charlie jedoch hatte so regungslos dagelegen, dass er sich sogar über sie gebeugt und das Ohr an ihren Mund gelegt hatte, um sicherzugehen, dass sie wirklich noch atmete. Er warf einen Blick auf die Uhr. Plane, dachte er. Beweg dich! Mach durch Handeln die Zweifel zunichte. Der Tisch mit dem unberührten Abendessen stand im Fenstererker; die ungeöffnete Champagnerflasche schwamm im Schmelzwasser des Eiskübels. Er benutzte nacheinander beide Gabeln, um das Hummerfleisch aus den Schalen zu kratzen, beschmutzte Teller, rührte die Salate durcheinander, zerdrückte die Erdbeeren und fügte den vielen Fiktionen, die sie bereits durchlebt hatten, eine letzte hinzu: die ihres Gala-Essens in Salzburg. Charlie und Michel feiern Charlies erste erfolgreiche Mission für die Revolution. Er trug die Champagnerflasche ins Badezimmer und schloss die Tür, damit der Knall des Korkens sie nicht weckte. Er leerte den Champagner ins Waschbecken und ließ Wasser nachlaufen; Hummerfleisch, Erdbeeren und Salat spülte er durchs Klo und musste warten und spülte dann noch einmal, weil beim ersten Mal nicht gleich alles verschwunden war. Er ließ so viel Champagner übrig, dass er ein wenig in sein eigenes Glas gießen konnte, und für Charlies Glas holte er den Lippenstift aus ihrer Handtasche und beschmierte den Rand damit, ehe er den Rest der Flasche hineingoss. Dann trat er wieder ans Fenster, wo er einen großen Teil der Nacht verbracht hatte, und starrte hinüber zu den regennassen blauen Bergen. Ich bin ein müder Bergsteiger, dachte er, der die Berge leid ist.

Er rasierte sich, er zog seinen roten Blazer an. Er trat ans Bett, streckte die Hand aus, um sie zu wecken, und zog sie wieder zurück. Ein Zögern, großer Müdigkeit vergleichbar, bemächtigte sich seiner. Er ließ sich wieder im Lehnstuhl nieder, hatte die Augen geschlossen und zwang sich, sie aufzumachen; zusammenfahrend, wachte er auf und spürte das Gewicht des Wüstentaus, der sich auf seinen Kampfanzug gelegt hatte, hatte den Geruch feuchten Sandes in der Nase, ehe die Sonne ihn trockensengte. »Charlie?« Wieder streckte er die Hand aus, diesmal, um ihr über die Wange zu streichen, doch statt dessen berührte er sie am Arm. Charlie, es ist ein Triumph; Marty sagt, du bist ein Star; du hättest ihn mit einer Reihe von neuen Charakterrollen beschenkt. Er hat seinen Gadi in der Nacht angerufen, doch du bist nicht davon aufgewacht. Besser als die Garbo, sagt er. Es gibt nichts, was wir zusammen nicht erreichen könnten, sagt er. Charlie, wach auf! Wir müssen an die Arbeit. Charlie!

Doch laut sprach er nur ihren Namen aus, ging dann hinunter, bezahlte die Rechnung und erhielt die letzte Quittung. Durch den Hintereingang ging er hinaus, um den Leih-BMW zu holen, und die Morgenfrühe war so, wie das Abenddämmer gewesen war: frisch und noch immer nicht sommerlich.

»Du winkst hinter mir her, und dann tust du so, als machtest du einen Spaziergang«, sagte er zu ihr. »Dimitri bringt dich separat nach München.«

Kapitel 14

Wortlos betrat sie den Aufzug. Es roch nach Desinfektionsmitteln, und die Wandschmierereien waren tief in das graue Vinyl eingegraben. Sie hatte wieder die Robuste herausgekehrt, so, wie sie es bei Demos und talk-ins und allem anderen öffentlichen Quark tat. Sie war erregt und hatte das Gefühl, dass ein Kreis sich nun schließen würde. Dimitri klingelte, Kurtz selbst machte auf. Hinter ihm stand Joseph, und hinter Joseph hing ein Messingschild mit dem Bild des heiligen Christophorus, der ein Kind wiegt. »Charlie, wirklich toll, dass Sie da sind, und Sie sind toll«, sagte Kurtz mit leiser, aber von Herzen kommender Eindringlichkeit und zog sie fest an sich. »Charlie, unglaublich.« »Wo ist er?« fragte sie und blickte an Joseph vorbei auf die geschlossene Tür. Dimitri war nicht mit hereingekommen. Nachdem er sie abgeliefert hatte, hatte er bereits wieder den Aufzug nach unten genommen.