Kurtz sprach immer noch so, als wären sie in der Kirche, und entschloss sich, auf ihre Frage ganz allgemein einzugehen. »Charlie, es geht ihm recht gut«, versicherte er ihr, als er sie losließ. »Ein bisschen mitgenommen von seinen Reisen, was ja nur natürlich ist, aber gut. Dunkle Brille, Joseph«, fügte er hinzu. »Gib ihr eine dunkle Brille. Haben Sie eine Sonnenbrille, meine Liebe? Hier, nehmen Sie dies Kopftuch, um Ihr schönes Haar zu verbergen. Behalten Sie es.« Es war aus grüner Seide, recht hübsch. Kurtz hatte es für sie in der Tasche bereitgehalten. Dicht beieinander stehend, sahen die beiden Männer zu, als sie sich das Kopftuch vorm Spiegel wie die Haube einer Krankenschwester umband. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Kurtz. »In unserem Beruf kann man nie vorsichtig genug sein. Stimmt’s nicht, Joseph?« Charlie hatte ihre neue Puderdose aus der Handtasche genommen und richtete ihr Make-up.
»Charlie, es könnte sein, dass Ihnen dies ein bisschen an die Nieren geht«, warnte Kurtz sie.
Sie steckte die Puderdose fort und holte den Lippenstift heraus. »Wenn Ihnen mulmig ist, denken Sie daran, dass er eine ganze Menge unschuldiger Menschen getötet hat«, riet ihr Kurtz. »Jeder hat ein menschliches Gesicht, und der junge Mann bildet darin keine Ausnahme. Sehr gutes Aussehen, viel Talent und viel ungenutzte Fähigkeiten - und alles verschwendet. So was zu sehen ist nie schön. Sobald wir hineingehen, möchte ich, dass Sie kein Wort mehr sprechen. Vergessen Sie das nicht. Überlassen Sie das Reden mir.« Er machte ihnen die Tür auf. »Sie werden feststellen, dass er ganz fügsam ist. Das musste sein, als wir ihn hier herschafften, und solange er hier bei uns ist, müssen wir dafür sorgen, dass er auch fügsam bleibt. Sonst ist er in gutem Zustand. Keine Probleme. Nur - reden Sie nicht mit ihm.«
Modische Studio-Wohnung mit Galerie, die schon bessere Tage gesehen hatte, registrierte sie automatisch und bemerkte die geschmackvolle offene Treppe, die rustikale Galerie und die schmiedeeiserne Balustrade. Ein Kamin im englischen Stil mit der Attrappe glühender Kohle aus bemalter Leinwand. Auffällig waren Lampen wie im Fotoatelier, dazu eindrucksvolle Kameras auf Dreifüßen. Ein riesiges Bandgerät mit Beinen, ein anmutig geschwungenes Marbella-Sofa, Schaumgummi und härter als Eisen. Sie nahm darauf Platz, und Joseph setzte sich neben sie. Wir sollten Händchen halten, dachte sie. Kurtz hatte den Hörer eines grauen Telefons abgenommen und drückte den Knopf zur Nebenstelle. Er sprach ein paar Wörter auf Hebräisch und sah dabei zur Galerie hinauf. Er legte auf und blickte sie aufmunternd an. Es roch nach Männern, Staub, Kaffee und Leberwurst. Und nach einer Million ausgedrückter Zigaretten. Sie entdeckte noch einen anderen Geruch, vermochte ihn jedoch nicht zu bestimmen, da ihr zu viele Möglichkeiten durch den Kopf gingen, vom Geschirr ihres ersten Ponys bis zum Schweiß ihres ersten Liebhabers.
Ihre Gedanken nahmen eine andere Gangart ein, und sie wäre fast eingeschlafen. Ich bin krank, dachte sie. Ich warte auf das Untersuchungsergebnis. Doktor, Doktor, sagen Sie mir freimütig, was es ist. Sie bemerkte den Stoß WartezimmerZeitschriften und wünschte, sie könnte eine als Requisit auf dem Schoß haben. Jetzt blickte auch Joseph zur Galerie hinauf. Charlie folgte seinem Blick, freilich erst ein wenig später, weil sie den Eindruck vermitteln wollte, sie habe so etwas schon so oft erlebt, dass sie kaum hinzusehen brauche; sie war eine Kundin auf einer Modenschau. Die Tür auf der Galerie ging auf und gab den Blick auf einen bärtigen jungen Mann frei, der mit dem schiefen Watscheln eines Bühnenarbeiters rückwärts herauskam und es selbst von hinten schaffte, seinen Ärger mitzuteilen. Einen Moment kam nichts, dann erschien so etwas wie ein niedriges scharlachrotes Bündel und danach ein glattrasierter junger Mann, der weniger ärgerlich aussah als vielmehr unerschütterlich fromm. Schließlich kapierte sie es. Es waren drei junge Männer, nicht zwei, nur dass der mittlere in dem roten Blazer zwischen ihnen fast mit den Knien einknickte: der schlanke junge Araber, ihr Liebhaber, ihre zusammengebrochene Marionette aus dem Theater der Wirklichkeit.
Ja, dachte sie hinter ihrer Sonnenbrille verborgen, durchaus vernünftig. Jawohl - nicht schlecht die Ähnlichkeit, wenn man die paar Jahre Altersunterschied bedenkt und Josephs unbestimmbare Reife. Manchmal hatte sie in ihren Phantasien Josephs Züge benutzt und ihn für den Liebhaber ihrer Träume einspringen lassen. Bei anderen Gelegenheiten war eine andere Gestalt vor ihr erstanden, die auf ihrer ungenauen Erinnerung an den maskierten Palästinenser während des Wochenendseminars beruhte; jetzt war sie beeindruckt, wie nahe sie damit der Wirklichkeit gekommen war. Findest du nicht, dass der Mund an den Mundwinkeln ein ganz klein wenig zu breit ist? fragte sie sich. Ist das mit der Sinnlichkeit nicht um eine Winzigkeit übertrieben? Die Nasenlöcher nicht zu gebläht? Die Taille nicht allzu betont? Sie war versucht aufzustehen, um zu ihm zu gehen und ihn zu beschützen, doch auf der Bühne tut man so was nicht, es sei denn, es steht im Rollenbuch. Und außerdem hätte Joseph das nie zugelassen.
Trotzdem hätte sie ums Haar für eine Sekunde die Fassung verloren. Diese eine Sekunde lang war sie all das, wovon Joseph gesagt hatte, dass sie es sei - Michels Erlöserin und Retterin, seine heilige Johanna, seine Leibsklavin, sein Star. Sie harte als Schauspielerin ihr Bestes für ihn gegeben, hatte in einem erbärmlichen kerzenerleuchteten Motel mit ihm zu Abend gegessen, sein Bett mit ihm geteilt, sich seiner Revolution angeschlossen, sie hatte sein Armband getragen, seinen Wodka getrunken, seinen Körper in Stücke gerissen und sich ihren Körper von ihm in Stücke reißen lassen. Sie hatte seinen Mercedes für ihn gefahren, seine Pistole geküsst und sein erstklassiges russisches TNT für ihn zu den belagerten Freiheitsarmeen geschafft. Sie hatte in Salzburg in einem Hotel an der Salzach den Sieg mit ihm gefeiert. Sie hatte nachts auf der Akropolis mit ihm getanzt und die ganze Welt für sich wieder zum Leben erweckt; und sie war von einem unsinnigen Schuldgefühl erfüllt, jemals an irgendeine andere Liebe gedacht zu haben.
Wie schön er war - genauso schön, wie Joseph es versprochen hatte. Noch schöner sogar. Er hatte jene absolute Attraktivität, die Charlie und ihresgleichen mit wehmütiger Unvermeidlichkeit anerkennen: Er gehörte zu jener Gattung, die Herrschaft ausstrahlen und sich dessen auch bewusst sind. Er war schmächtig, aber vollkommen, hatte gut ausgebildete Schultern und sehr schmale Hüften. Er hatte wulstige Brauen, das Gesicht eines jugendlichen Pans und darüber dicht am Kopf anliegendes, glattes schwarzes Haar. Nichts von dem, was sie unternommen hatten, um ihn zu zähmen, konnte ihr die Leidenschaftlichkeit seines Wesens verbergen oder das Licht der Rebellion in seinen tiefschwarzen Augen auslöschen. Er war so alltäglich - ein kleiner Bauernjunge, der von einem Olivenbaum gefallen war, mit einem Repertoire angelernter Phrasen und einem Elsternauge für hübsches Spielzeug, hübsche Mädchen und hübsche Wagen. Und mit der Empörung des Bauern gegenüber allen, die ihn von seinem Hof vertrieben hatten. Komm in mein Bett, du Kleiner, und lass dir von Mami ein paar von den großen Worten des Lebens beibringen.
Sie stützten ihn unter den Armen, und als er unsicher die Treppenstufen heruntertorkelte, traten seine Gucci-Schuhe immer wieder daneben, was ihm peinlich zu sein schien, denn ein Lächeln zuckte um seine Lippen, und er blickte verschämt auf seine unsicheren Füße. Sie brachten ihn zu ihr, und sie meinte, es nicht ertragen zu können.
Sie wandte sich an Joseph, um ihm das zu sagen, sah, dass er sie eindringlich anstarrte, und hörte, dass er etwas sagte, doch im selben Augenblick begann das Bandgerät sehr laut zu sprechen, und als sie herumfuhr, beugte sich der liebe Marty in seiner Strickjacke über das Gerät und fummelte an den Knöpfen herum, um das Ding leiser zu stellen.
Die Stimme war weich und hatte denselben ausgeprägten Akzent, wie sie ihn von dem Wochenendseminar in Erinnerung hatte. Was er da sagte, waren trotzige Schlagworte, mit unsicherem Eifer vorgetragen.