»Aber er war unschuldig, bis ihr ihn erfunden habt.« Da sie sein Schweigen fälschlich für Verwirrung und seine Verwirrung für Schwäche ansah, hielt sie inne und tat so, als betrachte sie die ungeheuerliche Silhouette der Stadt. »›Es ist notwendig‹ «, sagte sie schneidend. »›Ich wäre nicht hier, wenn es nicht notwendig wäre.‹ Zitat. ›Kein vernünftiger Gerichtshof auf Erden würde uns für das verdammen, was wir dich zu tun bitten.‹ Noch ein Zitat. Deine Worte, wenn ich mich recht erinnere. Möchtest du sie etwa zurücknehmen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Du glaubst es nicht. Du tätest aber besser daran, todsicher zu sein, oder? Denn wenn es hier irgendwelche Zweifel gibt, war’ es mir schon lieber, ich hätte sie.«
Immer noch stand sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt unmittelbar vor ihr, irgendwo im Bauch des Gebäudes gegenüber, das sie jetzt mit der Ernsthaftigkeit eines potentiellen Käufers betrachtete. Joseph dagegen war sitzen geblieben, was irgendwie die ganze Szene verdarb. Sie hätten sich von Angesicht zu Angesicht ganz dicht gegenüberstehen müssen. Oder er hinter ihr, den Blick auf dieselbe ferne Kreidemarkierung gerichtet. »Was dagegen, wenn wir ein paar Dinge klarstellen?« fragte sie. »Nur zu!«
»Er hat Juden umgebracht.«
»Er hat Juden umgebracht, und er hat unschuldige Umstehende umgebracht, die keine Juden waren und nichts mit dem Konflikt zu tun hatten.«
»Ich möchte wirklich gern ein Buch schreiben, und zwar über die Schuld all dieser unschuldigen Umstehenden, von denen du immer wieder redest. Ich würde bei euren Bombenangriffen auf den Libanon anfangen und mich von dort aus rundrum weiterarbeiten.« Ob er nun saß oder nicht, er bot ihr schneller und heftiger Paroli, als sie erwartet hatte. »Dieses Buch ist schon geschrieben worden, Charlie. Es heißt Holocaust.«
Mit Daumen und Zeigefinger bildete sie ein kleines Guckloch und spähte hindurch zu einem fernen Balkon. »Andererseits hast du selbst auch Araber getötet, nehme ich an.«
»Selbstverständlich.«
»Viele?«
»Genug.«
»Aber nur in Selbstverteidigung. Israelis töten nur in Selbstverteidigung.« Keine Antwort. »›Ich habe genug Araber getötet‹ , Unterschrift: ›Joseph‹.« Sie erreichte damit immer noch nicht, dass er aufstand. »Nun, nicht schlecht für das Buch, würde ich meinen. Ein Israeli, der genug Araber getötet hat.«
Ihr Schottenrock stammte aus Michels Aussteuer. Er hatte an beiden Seiten Taschen, wie sie erst vor kurzem entdeckt hatte. Jetzt steckte sie die Hände hinein, brachte den Rock zum Schwingen und tat so, als studierte sie die Wirkung.
»Ihr seid hundsgemein, oder etwa nicht?« fragte sie unbekümmert. »Ihr seid eindeutig hundsgemein. Meinst du nicht auch?« Sie blickte immer noch auf ihren Rock, wirklich daran interessiert, wie er sich bauschte und drehte. »Und du bist sogar der größte Schweinehund von allen, oder? Weil du beides in dir vereinigst. Eben blutet dir noch das Herz, und im nächsten Augenblick bist du der blindwütige Krieger. Dabei bist du – genau genommen - nichts weiter als ein blutrünstiger, landgieriger kleiner Jidd.«
Er stand nicht nur auf - er schlug sie. Zweimal. Nachdem er ihr zuvor die Sonnenbrille abgenommen hatte. Härter und schneller, als sie je zuvor geschlagen worden war, auf die gleiche Seite des Gesichts. Der erste Hieb war so heftig, dass ein verflixtes Triumphgefühl sie dazu brachte, ihr Gesicht in diese Richtung vorzurecken. Jetzt sind wir quitt, dachte sie und dachte an die Villa in Athen. Der zweite war eine erneute Explosion im selben Krater, und als es vorbei war, stieß er sie auf die Bank, wo sie sich hätte ausweinen können, doch sie war zu stolz, auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Hat er mich um seinet- oder um meinetwillen geschlagen? fragte sie sich. Verzweifelt hoffte sie, dass es um seinetwillen gewesen sei; dass sie in der zwölften Stunde ihrer Wahnsinnsehe endlich seine Reserve durchbrochen hatte. Doch ein Blick auf sein verschlossenes Gesicht und seine ruhigen, unbeweglichen Augen verriet ihr, dass es um sie und nicht um Joseph ging. Er hielt ihr ein Taschentuch hin, doch sie wehrte es mit einer vagen Handbewegung ab.
»Vergiss es«, murmelte sie.
Sie nahm seinen Arm, und er brachte sie langsam über den betonierten Weg zurück. Dasselbe alte Ehepaar sah sie lächelnd an, als sie vorübergingen. Kinder, versicherten sie einander - genau wie wir einst. Eben streiten sie sich noch mörderisch und gehen gleich darauf wieder ins Bett, um es noch besser zu machen als zuvor.
Die untere Wohnung war so ziemlich die gleiche wie die obere, nur dass es hier keinen Balkon und keinen Gefangenen gab, und manchmal gelang es ihr, wenn sie las oder etwas hörte, sich einzureden, überhaupt niemals oben gewesen zu sein - ›oben‹ , das war eine Schreckenskammer in den dunklen Winkeln ihres Geistes. Dann hörte sie wohl durch die Decke, wie eine Kiste dumpf auf den Boden fiel, denn die jungen Leute packten ihre Fotoausrüstung zusammen und bereiteten sich überhaupt auf das Ende ihres Aufenthalts vor; dann musste sie sich eingestehen, dass ›oben‹ genauso wirklich war wie ›unten‹ : wirklicher sogar, denn die Briefe waren Fälschungen, wohingegen Michel aus Fleisch und Blut bestand. Sie saßen im Kreis, alle drei, und Kurtz begann mit einer seiner Vorreden. Allerdings sprach er jetzt wesentlich klarer als sonst und längst nicht so weitschweifig. Vielleicht lag das daran, dass sie jetzt eine erprobte Mitkämpferin war, eine Veteranin, »die schon darauf verweisen kann, einen ganzen Sack erregender neuer Erkenntnisse beigesteuert zu haben«, wie er es ausdrückte. Die Briefe lagen in einer Aktenmappe auf dem Tisch, und ehe er sie aufmachte, wies er sie nochmals auf die ›Fiktion‹ hin, ein Wort, das er mit Joseph gemein hatte. Die Fiktion bestehe darin, dass sie nicht nur eine leidenschaftliche Geliebte sei, sondern auch eine leidenschaftliche Briefschreiberin, die während Michels langer Abwesenheiten kein anderes Ventil hatte. Während er dies noch einmal erklärte, zog er ein Paar billiger Baumwollhandschuhe an. Die Briefe seien in ihrer Beziehung also keinesfalls etwas Nebensächliches; sie stellten »die einzige Stelle dar, wo Sie Ihrem Herzen Luft machen konnten, meine Liebe«. Aus ihnen gehe nicht nur - oft mit entwaffnendem Freimut - ihre zunehmend besessene Liebe zu Michel hervor, sondern auch ihr politisches Wiedererwachen und ihre Hinwendung zu einem »globalen Aktivismus«, für den die »Verkuppelung« sämtlicher anti-repressiver Kämpfe überall auf der Welt selbstverständlich waren. Zusammengenommen enthielten sie das Tagebuch eines »emotional und sexuell erregten Menschen«, aus dem ihre fortschreitende Entwicklung von einer vagen Protesthaltung zu Massenaktivitäten abzulesen sei, die auch offene Gewalt nicht ausdrücklich ausschlossen.