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»Und da wir uns unter den gegebenen Umständen nicht darauf verlassen konnten, dass Sie uns mit der ganzen Vielfalt Ihrer literarischen Ausdrucksweise bekannt machen würden«, fügte er noch hinzu, als er die Aktenmappe aufmachte, »haben wir beschlossen, die Briefe für Sie zu verfassen.«

Natürlich, dachte sie. Sie warf einen Seitenblick auf Joseph, der aufrecht und ungewöhnlich harmlos dasaß, die Hände tugendhaft zwischen den Knien eingeklemmt, wie jemand, der im Leben keiner Fliege etwas zuleide getan hatte.

Sie steckten in zwei braun eingewickelten Päckchen, von denen das eine wesentlich größer war als das andere. Kurtz wählte das kleinere aus und machte es mit seinen behandschuhten Fingerspitzen unbeholfen auf, er breitete die Papiere flach vor sich aus. Sie erkannte die schwarze Schuljungen-Schrift von Michel. Dann wickelte Kurtz das zweite Päckchen aus, und es war wie ein Wirklichkeit gewordener Traum, als sie die Handschrift als ihre eigene erkannte. »Michels Briefe an Sie sind Fotokopien, meine Liebe«, sagte Kurtz gerade; »die Originale warten in England auf Sie. Aber bei Ihren eigenen Briefen handelt es sich um die Originale, sie gehören also Michel, nicht wahr, meine Liebe?«

»Natürlich«, sagte sie, diesmal laut, und blickte dabei instinktiv zu Joseph hinüber, diesmal freilich besonders auf seine zwischen den Knien festgeklemmten Hände, denen soviel daran gelegen war, jede Mitwirkung von sich zu weisen.

Michels Briefe las sie zuerst, denn sie hatte das Gefühl, ihm diese Aufmerksamkeit schuldig zu sein. Es waren ein Dutzend, es waren freimütig sinnliche und leidenschaftliche Briefe darunter, bis hin zu kurzen und im Befehlston gehaltenen. »Sei so lieb und nummeriere Deine Briefe. Wenn Du sie nicht nummerierst, schreib gar nicht erst. Ich kann Deine Briefe nicht genießen, wenn ich nicht weiß, ob ich sie alle erhalte. Dies zu meiner persönlichen Sicherheit.« Zwischen Absätzen, in denen er sich geradezu ekstatisch über ihre Schauspielerei ausließ, kamen trockene Ermahnungen, nur »gesellschaftlich relevante Rollen zu spielen, die bewußtseinerweckend wirken«. Gleichzeitig solle sie »öffentliche Auftritte vermeiden, die Deine wahre politische Einstellung erkennen lassen«. Sie solle keine radikal-politischen Wochenendseminare mehr besuchen und nicht mehr bei Demonstrationen und Kundgebungen mitmachen. Sie solle sich benehmen »wie eine Bürgerliche« und den Anschein erwecken, als finde sie sich mit den kapitalistischen Gegebenheiten ab. Sie solle den Anschein erwecken, als habe sie »der Revolution abgeschworen«, gleichzeitig jedoch insgeheim »auf alle Fälle mit Deiner radikalen Lektüre weitermachen«. Es gab manches Unlogische, viele Fehler im Satzbau und in der Rechtschreibung. Es war die Rede von »unserer baldigen Wiedervereinigung« (wie man annehmen konnte, in Athen) und gab ein paar gezierte Anspielungen auf weiße Trauben, Wodka und darauf, dass sie gut daran tue, »reichlich zu schlafen, ehe wir wieder zusammen sind«. Während sie weiterlas, machte sie sich allmählich ein neues und bescheideneres Bild von Michel, eines, das dem ihres Gefangenen oben plötzlich viel näher kam. »Er ist ein kleiner Junge«, murmelte sie und sah Joseph vorwurfsvoll an. »Du hast ihn zu groß aufgebaut. Er ist ja noch ein Junge.«

Da sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich ihren eigenen Briefen an Michel zu und nahm sie behutsam zur Hand, als enthüllten sie ihr ein großes Geheimnis. »Schulhefte«, sagte sie laut und setzte ein einfältiges Lächeln auf, als sie einen ersten nervösen Blick darauf warf - denn dank des Archivs vom armen Ned Quilley war der alte Georgier nicht nur in der Lage gewesen, Charlies ausgefallenen Geschmack in Bezug auf Briefpapier wiederzugeben - die Rückseiten von Speisekarten, Rechnungen, Papier mit Briefkopf von Hotels und Theatern und Pensionen auf ihrer Reise -, sondern hatte zu ihrem wachsenden Schrecken auch noch die spontanen Variationen ihrer Handschrift wiedergegeben, von den kindlichen Krakeln früher Trauer bis zur leidenschaftlichen, aber doch sehr ausgeschriebenen Handschrift einer liebenden Frau, von den Gute-Nacht-Kritzeleien der erschöpften Schauspielerin, die sich in irgendwelchen Absteigen verkroch und sich nach ein wenig Entspannung sehnte, zu der wie gestochen schreibenden, bemüht-belesenen Revolutionärin, die sich die Mühe machte, eine lange Passage aus Trotzki abzuschreiben, aber aus Versehen das zweite r‹ in ›überrennen‹ ausließ.

Ihr Briefstil war, dank Leon, nicht weniger genau getroffen; Charlie errötete geradezu, als sie erkannte, wie vollkommen sie ihre schaurigen Übertreibungen nachgemacht hatten, ihre Art, plump und unvollkommen zu philosophieren, ihre ausfälligen und erregten Wutausbrüche gegen die herrschende Tory- Regierung. Im Gegensatz zu Michel waren ihre Anspielungen auf ihre Liebe handfest und eindeutig; die Anspielungen auf ihre Eltern abfällig; die auf ihre Kindheit von Empörung und Rachegelüsten getragen. Sie begegnete Charlie der Aufschneiderin, Charlie der Zerknirschten, Charlie der Abgebrühten. Sie begegnete dem, was Joseph das Arabische in ihr nannte - jener Charlie, die in ihre eigene Rhetorik verliebt war, deren Wahrheitsvorstellungen weniger von dem inspiriert waren, was geschehen war, als von dem, was hatte geschehen sollen. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, nahm sie sich die beiden Stapel gemeinsam vor und las sie - den Kopf aufgestützt - noch einmal als vollständigen Briefwechseclass="underline" ihre fünf Antworten auf jeden einzelnen seiner Briefe, ihre Antworten auf seine Briefe, seine Ausflüchte als Antwort auf ihre Fragen.

»Danke, Jose«, erklärte sie schließlich, ohne den Kopf zu heben. »Vielen, vielen Dank. Wenn du mir für einen Moment unser hübsches Schießeisen leihen würdest - ich geh’ nur eben rasch raus und jag’ mir eine Kugel durch den Kopf.«

Kurtz lachte bereits, obwohl er mit seiner Heiterkeit allein dastand.

»Aber, Charlie, ich finde, das ist wirklich nicht fair unserem Freund Joseph gegenüber. Die Briefe waren ein Gemeinschaftswerk. Dabei haben eine ganze Reihe von klugen Köpfen mitgewirkt.«

Kurtz hatte noch eine letzte Bitte: die Umschläge, die Ihre Briefe enthalten, meine Liebe. Er habe sie hier bei sich, sehen Sie, nur noch nicht frankiert und abgestempelt, und er habe die Briefe noch nicht hineingesteckt, dass Michel sie in Empfang nehmen und feierlich aufmachen könne. Ob Charlie wohl so freundlich sein würde? Hauptsächlich gehe es um die Fingerabdrücke, sagte er; Ihre zuerst, meine Liebe, danach die von den Postbeamten und zuletzt die von Michel. Und dann sei da auch noch die Kleinigkeit wie ihr Speichel, für die Klappe hinten und unter den Briefmarken; ihre Blutgruppe, falls jemand jemals auf die Idee komme, das zu überprüfen; denn sie hätten ein paar sehr helle Köpfe dabei, wie ihre wirklich fabelhafte Arbeit gestern abend bestätigt hat. Sie erinnerte sich zwar an Kurtz’ lange und väterliche Umarmung, denn die war ihr in diesem Augenblick genauso unvermeidlich und notwendig erschienen wie die Tatsache, dass man einen Vater hat. An ihren Abschied von Joseph hingegen - ihren letzten in einer ganzen Reihe - konnte sie sich hinterher überhaupt nicht erinnern - weder, wie er vonstatten gegangen war, noch, wo. An die Einsatzbesprechung, ja; an die heimliche Rückkehr nach Salzburg, ja: anderthalb Stunden hinten in Dimitris fest verschlossenem Lieferwagen - und kein Wort mehr, sobald das Licht ausgeht. Und sie erinnerte sich an ihre Landung in London - nie im Leben war sie sich so mutterseelenallein vorgekommen; und an den Geruch englischer Traurigkeit, der sie sogar schon auf dem Rollfeld begrüßt hatte und sie daran erinnerte, was es überhaupt gewesen war, das sie ursprünglich nach radikalen Lösungen hatte Ausschau halten lassen: die bösartige Schlampigkeit der Behörden, die ausweglose Verzweiflung der Verlierer. Es gab gerade einen Bummelstreik bei der Gepäckabfertigung sowie einen Eisenbahnerstreik; die Damentoilette hatte etwas von einem Gefängnis. Sie ging bei Grün durch, und wie üblich hielt der gelangweilte Zollbeamte sie an und fragte sie aus. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich diesmal fragte, ob er womöglich einen Grund habe, das zu tun, und nicht nur das Bedürfnis, sie anzuquatschen.