»Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?«, fragte die Hasenscharte.
Benjamin ging hinüber zur Bank und stellte sich vor die Mädchen hin. Er knöpfte sein Hemd zu und schob dann, einen nach dem anderen, die Hosenträger hoch. »Ich glaube«, sagte er, »ich bin euer Nachbar.«
Mrs. Sands begann auf der Anrichte Teig zu walken, bestäubte ihn mit Mehl und rollte mit rhythmischem Druck das Nudelholz. Ren legte seinen Kopf an die Stuhllehne und sah ihr zu, als hätte er dies schon an hundert Morgen getan. Unterdessen brachen die Mädchen in wildes Gekicher aus, als Benjamin sich vorstellte. Mrs. Sands klatschte den Teig fester auf die Anrichte.
Ein lauter Glockenschlag ertönte, gefolgt von einem zweiten höheren. Die Mädchen sprangen von der Bank auf, griffen nach ihren Schultertüchern, hielten sie wie Segel über ihren Köpfen, ehe sie sie herabsenkten und die Enden unterm Kinn verknoteten.
»Wir sehen uns beim Abendessen«, sagte die Hasenscharte und warf Benjamin über die Schulter einen Blick zu. Ein paar Sekunden später waren alle verschwunden, und die Küchentür knallte zu.
»Wer sind die denn?«, fragte Ren.
».Mausefallenmädchen«, sagte Mrs. Sands und klatschte einen frischen Klumpen Teig auf den ersten.
Sie deutete mit dem Kopf in eine Ecke der Küche. Auf dem Boden lag eine kleine Holzkiste. Als Ren sich bückte, konnte er das frisch geschnittene Holz riechen. An einer Seite befand sich eine runde, mit einem Stück Blech bedeckte Öffnung. Das Blech war so eingehängt, dass es sich nur in eine Richtung bewegen ließ, genau wie die Klappe im Tor von Saint Anthony. Ren drückte es mit dem ausgestreckten Finger auf. Das Kistchen bebte und erwachte plötzlich zum Leben, so dass er seinen Finger rasch zurückzog. Er hörte die Maus auf der anderen Seite der Tür scharren.
»Sie arbeiten für McGinty«, schrie Mrs. Sands. »Er hat den Grund und Boden aufgekauft, nachdem das Bergwerk stillgelegt wurde, und die Mausefallenfabrik gebaut.«
Benjamin schob den Unterkiefer vor. »Ich habe von ihm gehört.«
»Dann wisst Ihr ja, was er aus dem Ort gemacht hat.« Mrs. Sands rieb sich das Mehl von den Händen. »Anfangs waren wir froh.
Wir brauchten die Arbeit und das Geld. Aber er brachte diese Mädchen mit. Lauter hässliche Mädchen ohne Ehemänner und ohne ein Zuhause. Er bezahlt sie schlecht und lässt sie Tag und Nacht in seiner Fabrik schuften. Fast alle anständigen Leute sind aus der Stadt weggezogen. Aber ich bin hier geboren, und mein Mann ist hier begraben, und ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen sollte.«
Mrs. Sands hustete in ihre Schürze. Dann kniff sie den Mund zusammen und kehrte zu ihrer Pastete zurück, hob behutsam eine Teigplatte an und legte sie in einen tiefen Teller. Die Luft roch nach Mehl und Wasser und Salz. Ren betrachtete Mrs. Sands’ Hände, die den Teig seitlich andrückten, ihn mit einem Messer zurechtschnitten und mit einer Gabel Löcher in den Boden stachen. Diese Hülle füllte sie mit einer Fleischmasse, deckte das Ganze mit einer zweiten Teigplatte zu und verband die beiden Teigstücke miteinander, indem sie sie an den Rändern mit einer leichten Drehung zusammendrückte und auf diese Weise ein Muster erzeugte. Ihre Finger zögerten keinen Augenblick.
Ren stand von seinem Stuhl auf und ging zur Anrichte, an der sie arbeitete. Er berührte ihre mehlbestäubte Hand. »Danke, dass Ihr diese Kleider für mich gerichtet habt«, sagte er.
Mrs. Sands schaute auf die Stelle, wo Ren sie berührte. Sie presste die Lippen aufeinander und hob den Kopf. Sie sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen, und ebenso plötzlich hellte sich ihre Miene wieder auf. »Das habe ich gern für dich getan.« Sie zog die Jacke an seinen Schultern zurecht, sichtlich zufrieden mit ihrer Arbeit, dann seufzte sie und nahm einen Lappen, um das Mehl vom Stoff abzuwischen.
»Wahrscheinlich ist es manchen Menschen vorherbestimmt zu ertrinken.«
»Vielleicht hat der Junge es verdient«, meinte Ren.
»Was sagst du da?«
»Dass Gott ihn bestraft hat.«
»Gott hat zu viel zu tun, um herumzulaufen und kleine Jungen zu bestrafen.« Sie klopfte Ren auf die Schulter, als müsste er das eigentlich wissen, und wandte sich wieder ihren Pasteten zu.
Unterdessen saß Benjamin die ganze Zeit am Küchentisch und beobachtete die beiden; dabei rollte er mit der Zunge einen Zahnstocher im Mund hin und her. Er biss auf das Holzstäbchen und fragte: »Hat dieser McGinty eigentlich eine Familie?«
Mrs. Sands nahm einen frischen Klumpen Teig und klatschte ihn auf die Anrichte. »Nicht dass ich wüsste. Früher mal hatte er eine Schwester.«
Ren sah, wie Benjamin aufhorchte. Er hatte den Eindruck, dass dieser Mann mehr wusste, als er sich anmerken ließ.
»Und was ist aus ihr geworden?«
»Er hat sie irgendwo untergebracht. Angeblich soll sie den Verstand verloren haben. Würde ich auch, wenn ich so einen Bruder hätte.«
Benjamin fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und blickte nachdenklich in seine Kaffeetasse. Man hörte Schritte auf der Treppe, dann kam Tom mit offenem Hemd zur Tür herein. Mrs. Sands schaute kurz in seine Richtung und deutete auf den Eimer. Tom schüttete sich Wasser ins Gesicht und verspritzte am Ende das meiste davon auf den Boden. Mrs. Sands holte einen Mopp aus einem Schrank und drückte ihn Tom in die Hand.
»Ich bin eine Hauswirtin, keine Dienstmagd.«
Als sie ihm den Rücken zukehrte, stieß Tom ein Reihe von Verwünschungen aus, blieb aber da und wischte den Boden, bis das Essen serviert wurde. Mrs. Sands setzte jedem der Männer einen Teller mit Eiern und Speck vor. Sie toastete etwas Brot auf dem Herd und schichtete es in einen Korb. Sobald Benjamin und Tom versorgt waren, trug Mrs. Sands ihre Pastete zum Herd und schob sie auf einem Rost in den Backofen. Bevor sie die Klappe zumachte, sah Ren kurz den weißen, glänzenden Teig.
Plötzlich wurde ihm klar, dass Mrs. Sands von dem Zwerg in ihrem Schornstein wusste. Sie hatte ihm die Mahlzeit hingestellt. Sie hatte seine Socken geflickt. Welche Gründe es dafür gab, wusste Ren nicht, aber er begriff, dass das Pferd für sie gedacht war. Er schob seine Hand in die Jackentasche und berührte es mit der Fingerspitze. Das Holz war glatt poliert.
Das einzige Spielzeug, das Ren je besessen hatte, war ein zerbrochener Zinnsoldat, den er einer der wohltätigen Großmütter geklaut hatte; damals war er kaum älter als fünf oder sechs gewesen. Fast ein Jahr lang hatte er sich dieses Spielzeug mit Brom und Ichy geteilt. Das Gesicht des Soldaten war abgescheuert, ein Bein und das Gewehr fehlten, aber dennoch hatten die Jungen zahllose Stunden damit verbracht, die Schlachten, die er geschlagen hatte, wieder aufleben zu lassen und Ersatzzubehör zu basteln. Dann hatte Ichy ihn in den Brunnen fallen lassen. Die Jungen trauerten ihm monatelang nach, schnitten für die Jahre, die sie mit ihm verbracht hatten, sogar Kerben in den Brunnenrand. Ren hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Mrs. Sands bestohlen hatte, aber von dem Pferd wollte er sich nicht trennen.
»Bist du bereit?« Benjamin zog seinen Mantel an.
Ren wusste nicht recht, wofür er bereit sein sollte, nickte aber und stand von seinem Stuhl auf. Tom schnappte sich noch ein Stück Brot vom Tisch.
»Ihr schuldet mir sechs Dollar.«
»Und wir werden sie ganz gewiss bezahlen«, sagte Benjamin. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ sie sanft zur Taille hinabgleiten.
Sie trat einen Schritt zurück. »Es muss aber heute sein.« Mrs. Sands umklammerte die Waschschüssel, die Benjamin verschmäht hatte, als wollte sie ihn damit bewusstlos schlagen. Tom ging zur Tür, in einer Hand das Brot, die andere auf dem Revolver, der in seinem Gürtel steckte.