Benjamin nahm ihr die Schüssel aus der Hand. Er stellte sie auf die Anrichte. »Heute.«
»Sehe ich Euch zum Abendessen?«
»Ja«, sagte Benjamin. »Alle drei.« Er packte Ren am Ärmel, und ehe sie noch etwas sagen konnte, waren sie verschwunden.
Kapitel 14
Bei Tageslicht sah North Umbrage anders aus. Die verlassenen Gebäude, an denen sie am Abend zuvor vorbeigefahren waren, hatten sich in Geschäfte verwandelt. Hufschmiede und Tontöpfer, Obststände und Buden mit Taschentüchern. Alle wurden von Frauen betrieben. Es gab eine Bäckerin, bei der Brotlaibe in den Regalen lagen; aus dem Fenster drang der Geruch von aufgehendem Teig. Es gab eine Hufschmiedin mit einem Hufeisen zwischen den Knien, hinter der Kinder den Blasebalg betätigten. Es gab eine Metzgerin mit blutbespritzter Schürze und bis über die Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln. Es gab sogar eine Abfallsammlerin, hinter deren Eselskarren voll verfaultem Gemüse, zerrissenen Teppichen und zerbrochenem Geschirr eine kleine Herde Schweine herlief.
Benjamin lenkte den Wagen an der Mausefallenfabrik vorbei. Jetzt, wo es Tag war, sah Ren das aufwendige rote Backsteinmauerwerk und den Rauch, der schwarz in den Himmel quoll. Ihm wurde etwas mulmig, und er war froh, als Benjamin das Pferd zu der Brücke lenkte, die aus der Stadt hinausführte.
Es war eine häufig benutzte, von Sand und Steinen gesäumte Brücke, in die die darüberfahrenden Wagen eines Jahrhunderts zwei Rinnen gekerbt hatten. Zu beiden Seiten standen Grüppchen alter Männer. Einige mit Angelruten, auf dem Weg zum Fischen. Einige, die rauchten. Andere, die sich zurücklehnten, als wollten sie den Wert des Pferdes taxieren.
Sie fuhren noch eine Meile, bis sie den Waldrand erreichten und das Gras und die Büsche zu beiden Seiten allmählich höher wurden. In der Ferne konnte Ren die Ecke eines Gebäudes ausmachen, welches das Krankenhaus sein musste. Es sah zumindest genauso aus, wie Mr. Bowers es beschrieben hatte, mit dicken Steinmauern und einem einsamen Türmchen, wie ein für sich stehendes Schloss. Je näher sie kamen, desto besser gelaunt waren die beiden Männer. Benjamin summte eine Melodie, während der Karren dahinholperte, und Tom kaute auf einem Stück Tabak herum. Ren versuchte sich von der fröhlichen Stimmung anstecken zu lassen, wurde aber zunehmend nervös, als sie sich dem Tor näherten. »Was soll ich tun, wenn wir da sind?«
»Frag nur nach Doktor Milton«, sagte Benjamin. »Angeblich bist du ein Patient.«
»Und warum muss ich gehen?«
»Weil er sich dann sicher fühlt. Er hat schon mal Ärger bekommen.« Benjamin fasste den Jungen an der Schulter. »Das könnte unsere Chance sein. Enttäusch mich jetzt nicht.«
Ren zwang sich, vom Wagen zu klettern. Er wollte es Benjamin gern recht machen, hatte aber noch nie eine Aufgabe allein übernommen. Er blieb neben dem Vorderrad stehen und umfasste eine Speiche, in der Hoffnung, einer der Männer würde es sich anders überlegen und Platz mit ihm tauschen.
»Wir warten ein Stück die Straße runter auf dich«, sagte Tom, und die Räder begannen sich zu drehen, so dass Ren die Speiche loslassen musste. Er sah den Wagen unter den Bäumen hindurchfahren und verschwinden. Dann wandte er sich zum Krankenhaus um.
Die Grundmauern des Bauwerks waren aus Granit. Es gab gleich drei Tore. Eines führte in den Hof, eines in den inneren Hof und eines ins Krankenhaus. Ren wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte. Er berührte die Mauer. Sie war kalt. Zweimal ging er vor dem Eingang hin und her, bis er die Glocke fand. Als er daran zog, schallte sie so laut, als sollte ihr Geläut nicht dazu dienen, Besucher anzukündigen, sondern sie abzuschrecken. Wenig später tauchte eine Ordensschwester auf. Ren erblickte sie hinter den ersten beiden Toren und sah, wie sie sich mit einer Bettpfanne den Weg zwischen den Eisengittern hindurch bahnte und mit grimmigem Gesicht ihrer Arbeit nachging.
»Schwester!«, schrie Ren.
Die Nonne stieß mit der Bettpfanne an die Innenseite der Mauer.
»Wer ist da?«
Sie fragte voller Ungeduld, kam dann näher ans Außentor heran und blieb stehen. Sie war mittleren Alters; ihre Nase und ihr Kinn waren spitz und die Augen so tiefdunkel, dass Iris und Pupille eins zu sein schienen.
Ren schob den Ärmel zurück und hielt ihr seinen Stumpf entgegen. »Doktor Milton hat gesagt, er kann mir helfen.«
Die Ordensschwester betrachtete Rens Arm, dann sein Gesicht, dann wieder den Arm. »Gelobt sei Gott«, sagte sie leise. Eine Regung huschte über ihre Züge, dann nahm ihre Miene wieder denselben abweisenden Ausdruck an wie zuvor. Sie klemmte die Bettpfanne unter ihren Arm und sperrte das Tor auf.
»Du bist sehr früh dran«, sagte sie. »Er ist noch im Operationssaal.«
Sie geleitete ihn ins Innere des Gebäudes, vorbei an einer Reihe großer abgeteilter Zimmer. Die hineingeschobenen Betten standen Seite an Seite, und in einigen Fällen lagen Matratzen direkt auf dem Boden und breiteten sich bis in den Flur aus. Ren versuchte die Luft anzuhalten. Hier drinnen roch es nach kaltem Rauch und gekochtem Fleisch. In den Ecken standen überschwappende Bettpfannen.
Die Patienten trugen Nachthemden. Dickes, schweres Wollzeug, ähnlich dem, das Mrs. Sands Ren nach seinem Bad übergezogen hatte. Ein paar blickten auf, als er vorbeiging, aber die meisten schliefen; ihre Arme oder Beine waren mit dicken Verbänden umwickelt. Ein Mann griff nach dem Jungen und bekam ihn an der Hose zu fassen.
»Ich brauche Wasser«, sagte der Mann. Sein Kopf war kahl geschoren, und seine Arme waren voller Schorf.
»Ich kümmere mich darum, dass Ihr welches bekommt«, sagte die Schwester. »Und jetzt lasst ihn los.«
Der Mann gehorchte und ließ sich in die Decken zurücksinken. Die Nonne legte ihre Hand auf Rens Schulter und schob ihn zur Treppe.
Sie war eine Barmherzige Schwester. Das erkannte Ren an ihrer grauen Tracht. Bruder Josephs Cousine, auch eine Barmherzige Schwester, hatte sie einmal in Saint Anthony besucht. Sie hieß Schwester Sarah und war nur fünf Tage dageblieben, doch in dieser Zeit hatte sie den Schlafsaal der kleinen Jungen von seinem fischigen Geruch befreit. Das gesamte Bettzeug der Kinder war nach draußen gebracht und in der Sonne ausgeklopft worden. Die Böden wurden mit Karbolsäure geschrubbt. Sie leitete die Jungen an, sich jeweils eine frische Garnitur Unterwäsche zu nähen, und steuerte selbst das Leinen und die Nadeln bei. Als sie wieder ging, weinten viele Kinder. Es dauerte eine ganze Woche, bis der tranige Geruch zurückkehrte, und Ren erinnerte sich noch, dass er an den Abenden zuvor beim Zubettgehen genussvoll den Geruch seines Kissens eingeatmet hatte.
»Wie ist denn das mit deiner Hand passiert?«, fragte die Nonne.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Die Nonne runzelte die Stirn, als sei sie mit der Antwort nicht zufrieden, und deutete auf eine Bank in der Ecke. Ren setzte sich hin und sah ihr nach, als sie davoneilte, wobei der Saum ihrer Tracht bei jedem Schritt leicht auf und ab wippte, und am Ende des Flurs hinter einer Tür verschwand.
Ren ließ die Füße baumeln und schaute nach beiden Seiten den Gang hinunter. Die Wände waren mit Porträts von Edelleuten geschmückt, Männern und Frauen, die mit ihren Jagdhunden posierten oder neben einem Fenster mit Blick auf ihren Landsitz standen. Nur ein einziges Bild stach von den anderen ab. Es zeigte einen Mann in einem gut geschnittenen, aber leicht verknitterten Jackett, der an einem Schreibtisch voller Bücher saß. Hinter ihm in einem Regal sah man einen Frosch in einem Glasgefäß, einen ausgestopften Vogel und, unverkennbar in seiner Form, einen menschlichen Schädel. Der Mann auf dem Bild fasste sich ans Kinn, als wäre ihm gerade ein Geistesblitz gekommen.
Ren versuchte sich vorzustellen, um welchen Gedanken es sich handeln mochte. Vermutlich war er wissenschaftlicher Natur, doch je länger Ren das Porträt betrachtete, desto klarer wurde ihm, dass der Mann überhaupt nicht gelehrt aussah, sondern vielmehr hungrig. Wahrscheinlich dachte er an Würste, und Ren war sich dessen schon fast sicher, als am Ende des Flurs ein Schrei ertönte, der ihn zusammenzucken ließ. Noch ein Schrei. Und dann noch einer.