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Ren beobachtete, wie der Mann mit den roten Handschuhen sein Gewicht im Sattel verlagerte. Er kaute auf einem Stück Tabak herum und wickelte ein ums andere Mal die Zügel um seine Finger.

»Uns interessiert nicht, wer sie sind und wo Ihr sie herhabt«, sagte der Mann ruhig. »Aber Ihr werdet keinen Meter weiter mit ihnen fahren.«

Benjamin behielt die Hände oben und zuckte die Achseln. Dann beugte er sich plötzlich vor und ließ die Peitsche in seiner Hand kräftig knallen. »Ha!« – und die Stute durchbrach die Mauer der Reiter.

»Festhalten!«, schrie Tom.

Der Wagen holperte die Straße entlang, und als sie in ein Schlagloch knallten, wurde Ren beinahe hinausgeschleudert. Er hielt sich seitlich an dem dahinrasenden Karren fest. Wieder gerieten sie in eine tiefe Fahrrinne, und Brom und Ichy wurden nahe an den Rand geschleudert. Ren packte Brom am Hemd, verrenkte sich die Finger, stemmte sich mit angewinkeltem Arm gegen sein Gewicht. Tom streckte ein Bein aus und fing Ichy, kurz bevor er hinten hinausrutschte, mit dem Fuß auf.

Benjamin war aufgestanden. Wieder und wieder ließ er die Peitsche knallen. Die Reiter hatten sich von dem Schreck erholt und verfolgten sie. Ren drehte sich um und sah durch den aufgewirbelten Staub, wie sie ihren Pferden die Sporen gaben. Ein Ast schlug Ren seitlich ins Gesicht, und das Rattern des Karrens und das Hufgetrappel dröhnten in seinen Ohren. Zwei der Männer hielten Pistolen in der Hand. Im Nu waren sie neben dem Wagen. Sprengten nach vorn, fielen dann wieder zurück, als die Straße schmaler wurde.

Tom griff nach einem der Säcke. Er nickte Ren zu, und gemeinsam zogen sie ihn ans Ende des Wagens. Es war schwierig, den Sack zu halten. Ren schmeckte Staub hinten im Rachen. Tom stieß den Toten aus dem Wagen, und Ren sah, wie er dem Wachmann vor die Füße fiel. Sein Pferd strauchelte, und er wurde abgeworfen.

Sie ergriffen den nächsten Sack und zerrten ihn nach hinten. Da knallte ein Schuss über ihre Köpfe hinweg. Tom duckte sich und trat den Sack mit den Füßen weiter. Er rutschte über die Kante, doch diesmal gaben die Männer ihren Pferden die Sporen, als er zu Boden plumpste, und sprangen darüber hinweg.

Mit ratternden Rädern bog der Wagen um eine Kurve, so dass Brom und Ichy quer über die Bretter rutschten. Sie landeten neben Ren und klammerten sich an ihn; ihre Handflächen waren glitschig vor Schweiß, ihre Fingernägel schrammten seine Haut auf.

Zwei Reiter lösten sich aus der Gruppe und sprengten in den Wald. Wenige Augenblicke später tauchten sie auf der Straße vor ihnen auf. Einer war der Mann mit den roten Handschuhen, der andere der mit dem Strohhut. Nun waren sie auf Höhe des Kutschbocks, nahe genug, um Benjamin berühren zu können, wenn sie wollten. Sie hoben ihre Gewehre.

»Pass auf.«, schrie Ren.

Sie schossen auf das Pferd. Ein Schuss, ein zweiter in den Hals des Tieres und dann ein dritter durchs Bein. Die Stute schwankte nach links und nach rechts, taumelte, versuchte sich zu fangen, stürzte schließlich. Der Wagen rollte über sie hinweg, die Deichselstangen bohrten sich in den Boden und brachen ab, Ren sah Benjamin herunterfallen, und dann kippte der Wagen um, überschlug sich, und es war, als bräche der Erdboden unter ihnen ein, und sie würden in einen Abgrund fallen, und dann schlug Ren mit dem Gesicht irgendwo auf und spürte ein schweres Gewicht auf dem Rücken.

In der Stille, die folgte, hatte Ren das Gefühl, dass die Bäume ihn holen wollten. Er konnte sie unter ihrer Rinde ächzend sprechen hören. Ihre Zweige griffen nach ihm. Er versuchte die anderen zu warnen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Dann spürte er, dass er getragen wurde, und bei jeder Bewegung kam es ihm vor, als würde er von Stiefeln zermalmt.

»Ist er tot?«

Noch mehr Stiefel. Stiefel mit Krallen. Ren wollte um Hilfe rufen. Er spürte einen winzigen Lufthauch nach unten dringen. Er sog ihn ein, und dann folgte noch ein kleiner Atemzug und noch einer. Seine Brust brannte wie Feuer.

Sie waren in einem Sumpf gelandet. Der Wagen war umgekippt und zur Hälfte eingesunken, so dass die geborstenen Räder tropfend aus dem Dreck ragten. Daneben standen Brom und Ichy. Der Mann mit der Wachmannmütze hatte eine Pistole auf sie gerichtet. Tom lag unter dem Wagen; man sah gerade noch die untere Hälfte seines Mantels und hörte seine erstickten Schreie. Die Melone und der Strohhut gruben ihn aus.

Der Mann mit dem Zylinder trug Ren auf dem Arm. Die Hutkrempe war breit, der Rand aus Satin, und an einer Stelle hatte er einen dunkelroten Fleck. Ebendiesen Hut hatte der Mann getragen, den Dolly getötet hatte. Da war Ren ganz sicher. Aber der Mann, der ihn jetzt aufhatte, war älter, hatte ein Erwachsenengesicht mit einem Bart.

»Pilot«, sagte der neue Zylinder. »Ich habe noch einen gefunden.«

Der Mann mit den roten Handschuhen beäugte Ren aus einiger Entfernung.

»Bring ihn zu den anderen.«

Die Stute lebte noch. Durch ihre Nüstern blies sie die Luft in harten Stößen aus. Sie blinzelte heftig, als wollte sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen. Ren musste an den Farmer denken, der sie auf die Nase geküsst hatte, und bekam heftige Schuldgefühle. Pilot lud sein Gewehr nach. Als er damit fertig war, ließ er es zuschnappen, setzte den Lauf an den Kopf des Pferdes, knapp unterm Ohr, und drückte ab. Der Knall hallte über das Sumpfland.

»Eigentlich hätte es dich treffen sollen«, sagte Pilot, und erst jetzt bemerkte Ren Benjamin, der zusammengerollt am Boden lag. Sein blauer Mantel war zerrissen, die Haut über dem Auge aufgeplatzt, und seine rechte Wange schwoll bereits an.

Unter dem Wagen ertönte ein Schrei. Das war Tom. Er verfluchte die Männer, die ihn ausgruben. Dann begann er zu heulen und zu brüllen; seine Schreie hallten über das Sumpfland. Der Mann mit der Melone kam zurück.

»Sein Bein ist gebrochen.«

»Sag ihm, er soll still sein«, sagte Pilot.

Der Zylinder durchsuchte Rens Taschen und nahm ihm das Bärenmesser ab. Dann trug er ihn zu den Zwillingen hinüber und setzte ihn zwischen den beiden auf dem Boden ab. Die Jungen waren von Kopf bis Fuß voller Schlamm. Kleider wie Gesichter waren schmutzig braun. Zum allerersten Mal konnte Ren sie nicht voneinander unterscheiden.

»Ich habe Wasser in den Ohren.«

»Bringen sie uns jetzt um?«

Ren versuchte zu antworten, aber seine Rippen taten ihm weh. Er sah Benjamin mit Pilot reden. Er wusste, dass es schon eine grandiose Geschichte sein musste, wenn sie da wieder rauskommen wollten. Er stellte sich vor, Benjamins Worte kämen eins nach dem anderen angeflogen wie die Perlen eines Rosenkranzes, und mit diesem Bild im Kopf begann er zu beten. Mit jeder Wiederholung gewann das Gebet an Kraft und Intensität, bis der Zyklus vollendet war.

Nun setzte Benjamin seine Hände ein und untermalte Teile seiner Erzählung mit Gesten. Pilot hörte aufmerksam zu und nickte, dann hob er den Gewehrkolben und schlug ihn Benjamin ins Gesicht. Blut strömte aus Benjamins Nase. Pilot trat einen Schritt zurück, damit sein Mantel keine Flecken bekam. Dann sagte er etwas zur Melone und dem Zylinder, und die beiden Männer traten vor und prügelten auf Benjamin ein, bis er zu Boden sackte; er versuchte seinen Kopf mit den Händen zu schützen und flehte sie an, von ihm abzulassen. Ren schloss die Augen. Er hielt sich die Ohren zu. Die Schreie gingen weiter, während die toten Leiber aufgesammelt und die Pferde neu verteilt wurden und man Tom unter dem Wagen hervorzog. Sie hielten an, hallten markerschütternd durch den Wald, bis Ren mit all seinen Gebeten am Ende war.

Kapitel 24

Als die Reiter in North Umbrage ankamen, verkroch sich der alte Fischer unter die Brücke, die Landstreicher zogen sich in die schmalen Gassen zurück, und die Witwen schlossen ihre Ladenfenster und klappten die Läden zu. Empfangen wurden Pilot und seine Gefangenen einzig und allein vom Rauch der Mausefallenfabrik, die im frühen Morgenlicht leuchtete. Ren musste daran denken, wie das Gebäude vom Hausdach aus ausgesehen hatte und die Mädchen in ihrer Arbeitskleidung aus allen Richtungen durchs Eingangstor geströmt waren, wie Wasser, das alle Hindernisse umfließt.