Die Schwestern wechselten einen stummen Blick.
»Nicht genau«, gab Schwester Graciela zu.
»Und wie hättet ihr dann hinfinden wollen, verdammt noch mal?«
»Gott wird uns führen«, sagte Schwester Teresa nachdrücklich.
Rubio Arzano, ein weiterer Vertrauter Miros, grinste. »Sie haben Glück gehabt.« Er nickte zu Jaime hinüber. »Er ist persönlich erschienen, um Sie zu führen, Schwester.«
Jaime brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Wir trennen uns und benützen drei verschiedene Routen.«
Er holte eine Landkarte aus seinem Rucksack, und die Männer kauerten ringsum und richteten ihre Taschenlampen auf die Karte.
»Das Kloster Mendavia liegt hier - südöstlich von Logrono. Ich marschiere nach Norden über Valladolid und dann weiter nach Burgos.« Miro fuhr mit dem Zeigefinger seine Route nach, bevor er sich an Rubio Arzano, einen großen, freundlich wirkenden Mann, wandte. »Du nimmst die Route über Olmedo und nach Penafiel und Aranda de Duero.«
»Wird gemacht, Amigo.«
Jaime konzentrierte sich erneut auf die Landkarte. Er sah zu Ricardo Mellado auf, einem der beiden Männer, deren Gesichter Spuren von Misshandlungen trugen. »Ricardo, du marschierst nach Segovia und von dort aus über die Berge nach Carezo de Abono und Soria. Unser gemeinsamer Treffpunkt ist Logrono.« Er faltete die Karte zusammen. »Logrono ist zweihundertzehn Kilometer von hier entfernt.« Miro rechnete schweigend. »Wir treffen uns in sieben Tagen. Haltet euch von den Hauptstraßen fern.«
»Wo treffen wir uns in Logrono?« wollte Felix Carpio wissen.
»Nächste Woche spielt dort der Zirkus Nippon«, sagte Ricardo.
»Gut, dann treffen wir uns dort. In der Nachmittagsvorstellung.«
»Und wer nimmt die Nonnen mit?« fragte Felix weiter.
»Die verteilen wir auf die Gruppen.«
Diesem Unsinn muss ein Ende gemacht werden, dachte Lucia. »Falls nach Ihnen gefahndet wird, Senores, sind wir weniger gefährdet, wenn wir uns allein durchschlagen.«
»Aber wir nicht, Schwester«, antwortete Jaime. »Sie wissen schon zuviel über unsere Pläne.«
»Außerdem hätten Sie keine Chance«, fügte Rubio Arzano hinzu. »Wir kennen das Land. Wir sind Basken, und die Menschen im Norden sind unsere Freunde. Sie helfen und verstecken uns vor dem nationalistischen Militär. Allein würden Sie nie nach Mendavia durchkommen.«
Ich will nicht nach Mendavia, du Idiot!
»Gut, dann brechen wir jetzt auf«, sagte Jaime Miro missmutig. »Bei Tagesanbruch müssen wir schon möglichst weit fort sein.«
Schwester Megan hörte dem Mann, der die Befehle erteilte, schweigend zu. Er war grob und arrogant, schien aber irgendwie beruhigende Kraft auszustrahlen.
Miro sah zu Schwester Teresa hinüber und zeigte auf Tomas Sanjuro und Rubio Arzano. »Diese beiden sind für Sie verantwortlich.«
»Für mich ist Gott verantwortlich«, sagte Schwester Teresa.
»Klar«, bestätigte Jaime trocken. »Deshalb sind Sie vermutlich überhaupt hier.«
Rubio trat auf sie zu. »Rubio Arzano zu Ihren Diensten, Schwester. Wie heißen Sie?«
»Ich bin Schwester Teresa.«
»Ich gehe mit Schwester Teresa«, warf Lucia rasch ein. Sie hatte nicht die Absicht, sich von dem goldenen Kruzifix trennen zu lassen.
Jaime Miro nickte. »Einverstanden, Schwester.« Er deutete auf Graciela. »Ricardo, du nimmst diese hier mit.«
Ricardo Mellado nickte wortlos.
Die Frau, die Miro als Kundschafterin ausgeschickt hatte, war wieder zurück. »Alles klar, Jaime«, meldete sie.
»Gut.« Jaime Miro sah zu Megan hinüber. »Sie kommen mit uns, Schwester.«
Megan nickte zufrieden. Jaime Miro faszinierte sie. Und auch an der Frau reizte sie irgend etwas. Sie war rothaarig und wild, mit den scharfen Zügen eines Raubtiers. Ihr Mund glich einer roten Wunde. Ihre Ausstrahlung war unglaublich erotisch.
Jetzt baute sie sich vor Megan auf. »Ich bin Amparo Ji-ron. Halten Sie den Mund, Schwester, dann gibt’s keine Schwierigkeiten.«
»Los, wir müssen weiter!« befahl Jaime den anderen. »In sieben Tagen in Logrono. Lasst die Schwestern keine Sekunde aus den Augen.«
Rubio Arzano und Schwester Teresa waren bereits als erste unterwegs. Lucia hastete hinter ihnen her. Sie hatte die Landkarte gesehen, die Arzano in seinen Rucksack gesteckt hatte. Die nimmst du ihm ab, beschloss Lucia, wenn er schläft.
Ihre Flucht quer durch Spanien hatte begonnen.
10
Miguel Carrillo war nervös. Tatsächlich war er sogar sehr nervös. Was morgens so gut damit begonnen hatte, dass er den vier Nonnen begegnet war und ihnen weisgemacht hatte, er sei ein Franziskanermönch, hatte damit geendet, dass er niedergeschlagen und an Händen und Füßen gefesselt auf dem Fußboden des Modegeschäfts zurückgelassen worden war.
Dort entdeckte ihn die Ladenbesitzerin. Sie war eine ältliche, nicht sonderlich freundliche, schwergewichtige Frau mit einem Anflug von Schnurrbart. »Madre de Di-os!« rief sie aus, als sie Carrillo gefesselt vor sich liegen sah. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«
Carrillo setzte seinen gesamten Charme ein. »Dem Himmel sei Dank, dass Sie gekommen sind, Senorita!« Angesichts dieser Senora war das eine schamlose Übertreibung. »Ich habe versucht, mich aus diesen Fesseln zu befreien, um von Ihrem Telefon aus die Polizei anrufen zu können.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Er versuchte, seinen Körper in eine etwas bequemere Lage zu bringen. »Die Erklärung dafür ist einfach, Seno-rita. Ich bin Frater Alfonso Gonzales und komme aus einem Kloster in der Nähe von Madrid. Als ich gerade an Ihrem schönen Laden vorbeigegangen bin, habe ich zwei junge Männer gesehen, die hier eingebrochen haben. Ich habe es für meine Pflicht als Gottesmann gehalten, sie daran zu hindern. Deshalb bin ich ihnen in den Laden gefolgt, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen - aber sie haben mich überwältigt und dann gefesselt zurückgelassen. Wenn Sie mich jetzt losbinden würden, damit ich.«
»Mierda!«
Er starrte sie an. »Verzeihung?«
»Wer sind Sie?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich.«
»Ich glaube, dass Sie der schlechteste Lügner sind, den ich je gehört habe.«
Sie blieb vor den abgelegten Ordensgewändern der Nonnen stehen.
»Was haben diese Sachen zu bedeuten?«
»Äh. mit denen hatten die beiden jungen Männer sich verkleidet, wissen Sie, und.«
»Hier liegen aber vier Gewänder - und Sie haben von zwei Männern gesprochen.«
»Ganz recht. Die beiden anderen sind später dazugekommen und.«
Sie ging ans Telefon.
»Was haben Sie vor?«
»Ich rufe die Polizei.«
»Ich versichere Ihnen, dass das nicht nötig ist. Sobald Sie mich losgebunden haben, gehe ich aufs Revier und gebe meine Aussage zu Protokoll.«
Die Frau blickte auf ihn herab.
»Ihre Kutte steht offen, Frater.«
Die Polizeibeamten waren noch unfreundlicher als die Ladenbesitzerin. Miguel Carrillo wurde von vier Angehörigen der Guardia Civil vernommen. Ihre grünen Uniformen mit den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Lacklederbaretten, die in ganz Spanien Angst und Schrecken verbreiteten, wirkten auch auf Carrillo einschüchternd.
»Sind Sie sich darüber im klaren, dass Ihre Personenbeschreibung genau auf einen Mann passt, nach dem wegen Mordes an einem Geistlichen gefahndet wird?«
Carrillo seufzte. »Das überrascht mich nicht. Ich habe einen Zwillingsbruder, der Himmel möge ihn strafen. Seinetwegen bin ich ins Kloster gegangen. Unsere arme Mutter.«