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»Erzählen Sie uns keine Märchen!«

Ein Riese mit narbigem Gesicht betrat den Raum.

»Guten Tag, Oberst Acoca.«

»Ist das der Mann?«

»Ja, Oberst. Wir haben gedacht, dass Sie wegen der in dem Laden gefundenen Ordensgewänder daran interessiert sein würden, ihn selbst zu vernehmen.«

Oberst Ramon Acoca baute sich vor dem glücklosen Carrillo auf. »Ja, daran bin ich sehr interessiert.«

Miguel Carrillo lächelte so gewinnend wie möglich. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Oberst. Ich bin im Auftrag meines Priors unterwegs und muss dringend nach Barcelona weiter. Wie ich diesen freundlichen Herren zu erklären versucht habe, bin ich das Opfer widriger Umstände geworden, nur weil ich den barmherzigen Samariter spielen wollte.«

Acoca nickte freundlich. »Da Sie’s eilig haben, will ich versuchen, Sie nicht lange aufzuhalten.«

Carrillo lächelte erfreut. »Danke, Oberst.«

»Ich werde Ihnen ein paar einfache Fragen stellen. Beantworten Sie sie wahrheitsgemäß, ist alles in Ordnung. Belügen Sie mich, wird es sehr schmerzhaft für Sie.« Er streifte sich irgend etwas über die rechte Hand.

»Gottesmänner lügen nicht«, behauptete Carrillo selbstgefällig.

»Um so besser! Erzählen Sie mir von den vier Nonnen.«

»Ich weiß nichts von vier.«

Die Faust, die seinen Mund traf, trug einen Schlagring, der seine Lippe aufplatzen ließ.

Carrillo schrie laut auf.

Der Oberst wiederholte seine Aufforderung. »Erzählen Sie mir von den vier Nonnen.«

»Ich weiß nichts.«

Diesmal schlug die Faust ihm zwei Zähne aus.

Carrillo verschluckte sich an seinem eigenen Blut. »Aufhören!« ächzte er. »Ich.«

»Erzählen Sie mir von den vier Nonnen«, verlangte Acoca erneut. Seine Stimme klang ruhig und vernünftig.

»Ich.« Er sah, dass die Faust zum nächsten Schlag ausholte. »Ja! Ich. ich.«

Die Worte sprudelten nur so heraus. »Auf der Flucht aus ihrem Kloster sind sie in Villacastin gewesen. Bitte nicht mehr schlagen!«

»Weiter«, verlangte der Oberst.

»Ich. ich habe ihnen meine Hilfe angeboten. Sie wollten andere Kleidung, um nicht aufzufallen.«

»Deshalb haben Sie in dem Modegeschäft eingebrochen.«

»Nein. Ich. ja. Ich. sie haben Kleidungsstücke gestohlen und mich niedergeschlagen und dort zurückgelassen.«

»Haben sie davon gesprochen, wohin sie wollten?«

In Carrillo erwachte plötzlich ein seltsames Ehrgefühl. »Nein.« Dass er Mendavia unerwähnt ließ, hatte nichts mit den Nonnen zu tun. Die vier Frauen waren ihm gleichgültig. Aber er hasste den Oberst, der ihm das Gesicht ruiniert hatte. So würde es ihm sehr schwer fallen, sich nach seiner Entlassung aus der Haft seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Oberst Acoca wandte sich an die Angehörigen der Guardia Civil. »Seht ihr, was sich mit ein bisschen gutem Zureden erreichen lässt? Bringt ihn wegen Mordverdachts nach Madrid in Untersuchungshaft.«

Auf ihrem Marsch nach Nordosten in Richtung Olmeda mieden Lucia, Schwester Teresa, Rubio Arzano und To-mas Sanjuro die großen Straßen und blieben auf Feldwegen durch Kornfelder. Sie kamen an Schaf- und Ziegenherden vorbei, und die heitere Unschuld der idyllischen Landschaft stand in ironischem Kontrast zu der ernsten Gefahr, in der sie alle schwebten. Sie marschierten die ganze Nacht lang und suchten sich bei Tagesanbruch ein Versteck in den Hügeln. »Nach Olmeda ist’s nicht mehr weit«, stellte Rubio Arzano fest. »Wir bleiben hier, bis es wieder dunkel wird. Ihr beiden scheint etwas Schlaf nötig zu haben.«

Schwester Teresa war körperlich erschöpft. Emotional ging jedoch etwas weit Besorgniserregenderes in ihr vor: sie hatte das Gefühl, den Bezug zur Realität zu verlieren. Angefangen hatte alles mit dem Verlust ihres kostbaren Rosenkranzes. Hatte sie ihn verloren - oder war er ihr gestohlen worden? Sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Er war ihr seit vielen, vielen Jahren ihr größter Trost gewesen. Wie viele tausendmal hatte sie in dieser Zeit ihren Rosenkranz gebetet? Er war zu einem Stück ihrer selbst, zu einem Teil ihrer inneren Sicherheit geworden, und nun besaß sie ihn nicht mehr.

Hatte sie ihn während des Überfalls im Kloster verloren? Und hatte dieser Überfall tatsächlich stattgefunden? Alles erschien ihr jetzt so irreal. Sie wusste nicht mehr bestimmt, was Realität und was Einbildung war. Zum Beispiel das Baby, das sie gesehen hatte. War es Moni-ques Baby gewesen? Oder hatte Gott ihr damit einen Streich spielen wollen? Alles erschien ihr so verwirrend. In ihrer Jugend war alles so einfach gewesen. In ihrer Jugend.

11

Eze, Südfrankreich 1924

Schon als Achtjährige verdankte Teresa de Fosse der Kirche den größten Teil ihres Glücks.

Der Glaube glich einer heiligen Flamme, von deren Wärme die Kleine sich angezogen fühlte. Sie betete in der Chapelle des Penitents Blancs, der Kathedrale von Monaco und der Kirche Notre Dame Bon Voyage in Nizza, aber meistens besuchte sie die Gottesdienste in der Kirche in Eze.

Teresa lebte in einem Schloss auf einem Hügel über dem mittelalterlichen Dorf Eze, das bei Monte Carlo hoch über dem Mittelmeer lag.

Eze war auf einer Felsklippe erbaut, und Teresa hatte manchmal das Gefühl, von dort aus die ganze Welt überblicken zu können. Am höchsten Punkt des Dorfes stand ein Mönchskloster, von dem aus die Häuserzeilen sich hangabwärts bis hinunter ans blaue Mittelmeer ergossen.

Monique - ein Jahr jünger als Teresa - war die Schönheit der Familie. Schon als Kind war ihr anzusehen, dass sie eines Tages eine sehr attraktive Frau werden würde. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit strahlendblauen Augen und besaß die zu ihrem Aussehen passende ungezwungene Selbstsicherheit.

Teresa war das hässliche Entlein der Familie. Tatsächlich genierten die de Fosses sich wegen ihrer älteren Tochter. Wäre Teresa im herkömmlichen Sinn hässlich gewesen, hätten ihre Eltern sie vielleicht zu einem Schönheitschirurgen geschickt, um ihre Nase verkleinern, das Kinn vergrößern oder die Lider korrigieren zu lassen.

Das Problem bestand jedoch daraus, dass sämtliche Gesichtszüge Teresas ein bisschen aus dem Lot geraten zu sein schienen. Nichts war am richtigen Platz - als sei sie eine ständig lachende Komödiantin.

Wie als Ausgleich dafür hatte Gott Teresa mit einer engelsgleichen Stimme gesegnet, mit der sie zum ersten Mal aufgefallen war, als sie im Kirchenchor gesungen hatte. Die Gemeindemitglieder hatten staunend vernommen, wie rein und klar dieses kleine Mädchen sang. Und Teresas Stimme wurde mit zunehmendem Alter noch besser. Sie durfte in der Kirche alle Solopartien singen und fühlte sich deshalb dort gut aufgehoben. Außerhalb der Kirche war Teresa jedoch wegen ihres Aussehens ungewöhnlich schüchtern.

In der Schule hatte nur Monique Freunde. Jungen wie Mädchen umringten sie ständig. Sie wollten mit ihr spielen, mit ihr gesehen werden. Monique wurde auf alle Partys eingeladen. Auch Teresa erhielt Einladungen -aber erst im nachhinein, als gesellschaftliche Pflichtübung, wie ihr schmerzhaft bewusst war.

»Nein, Renee, du kannst die De-Fosse-Mädchen nur gemeinsam einladen. Alles andere wäre unhöflich.«

Monique schämte sich wegen ihrer hässlichen Schwester. Sie hatte das Gefühl, dadurch irgendwie herabgesetzt zu werden.

Teresas Eltern behandelten ihre ältere Tochter stets anständig. Sie erfüllten ihre elterlichen Pflichten sorgsam -aber sie ließen zugleich deutlich erkennen, dass Monique ihr Liebling war. Etwas, wonach Teresa sich sehnte, blieb ihr immer versagt: Liebe.

Sie war ein braves Kind, willig und anpassungsfähig und eine gute, fleißige Schülerin, deren Lieblingsfächer Musik, Geschichte und Fremdsprachen waren.

Ihren Lehrern, dem Hauspersonal und den meisten Bürgern von Eze tat sie leid. Wie ein Kaufmann eines Tages sagte, als Teresa seinen Laden verließ: »Als Gott sie erschaffen hat, hat er gerade mal nicht aufgepasst.«