Liebe fand Teresa jedoch in der Kirche. Der Pfarrer liebte sie, und Jesus liebte sie. Sie ging jeden Morgen zur Messe und betete vor den vierzehn Kreuzwegstationen. Wenn sie in der kühlen Kirche mit ihren hohen Gewölben kniete, glaubte sie, Gottes Gegenwart zu spüren. Und wenn sie dort sang, erfüllte sie ein Gefühl der Hoffnung, von freudiger Vorahnung. Teresa hatte das Gefühl, ihr stehe irgendetwas Wundervolles bevor. Nur diese Hoffnung machte ihr das Leben überhaupt erträglich.
Um ihre Eltern und ihre Schwester nicht zu belasten, erzählte Teresa ihnen nie, wie unglücklich sie war, sondern tröstete sich mit dem geheimen Bewusstsein, wie sehr Gott sie liebte - und wie sehr sie Gott liebte.
Teresa betete ihre Schwester an. Die beiden Mädchen spielten im Park des elterlichen Schlosses, und sie ließ Monique bei jedem Spiel gewinnen. Gemeinsam erforschten sie die nähere Umgebung, stiegen die lange Steintreppe nach Eze hinab, streiften durch die schmalen Dorfgassen und beobachteten, wie die dort lebenden Künstler ihre Bilder vor ihren Ateliers anboten.
Als die Mädchen ins Backfischalter kamen, bewahrheiteten sich die Vorhersagen der Dorfbewohner. Monique wuchs zu einer Schönheit heran. Sie war der Schwarm aller Jungen, während Teresa in ihrem Zimmer blieb, um zu lesen oder zu nähen, oder im Dorf Einkäufe machte.
Als Teresa eines Tages am Salon vorbeiging, hörte sie ihre Eltern diskutieren.
»Du wirst sehen, dass sie eine alte Jungfer wird! Dann haben wir sie unser Leben lang am Hals.« »Teresa findet bestimmt jemand. Sie ist sehr lieb und charakterfest.«
»Das sind aber nicht die Eigenschaften, auf die junge Männer heutzutage Wert legen. Sie wollen eine Frau, mit der es Spaß macht, ins Bett zu gehen.«
Teresa flüchtete entsetzt.
Dass Teresa sonntags weiter in der Kirche sang, führte zu einem Ereignis, das beinahe ihr Leben verändert hätte. Zu den Gemeindemitgliedern gehörte eine Madame Go-dard, deren Neffe Direktor des Rundfunksenders Nizza war.
Eines Sonntagmorgens hielt sie Teresa nach dem Gottesdienst an. »Sie vergeuden hier Ihr Talent, meine Liebe. Sie haben eine außergewöhnliche Stimme, die Sie benützen sollten.«
»Aber ich benütze sie doch! Ich.«
»Ich spreche nicht von dem hier.« Ihre Handbewegung umfasste die Kirche. »Ich meine, dass Sie professionell singen sollten. Ich verstehe genug von Musik, um zu wissen, dass Sie außergewöhnlich begabt sind, und möchte, dass Sie meinem Neffen vorsingen. Er kann Ihnen Engagements beim Rundfunk vermitteln. Sind Sie daran interessiert?«
»Ich. ich weiß nicht recht.« Allein der Gedanke daran erschreckte Teresa.
»Reden Sie mit Ihrer Familie darüber, mein Kind.«
»Eine wunderbare Idee, finde ich«, meinte Teresas Mutter.
»Das würde dir bestimmt nützen«, stimmte ihr Vater zu.
Nur Monique erhob Einwände dagegen. »Du bist keine ausgebildete Sängerin«, sagte sie. »Du könntest dich unsterblich blamieren.«
Dabei hatte Monique in Wirklichkeit andere Gründe für ihren Wunsch, Teresa zu entmutigen. Sie fürchtete eigentlich, ihre Schwester könnte erfolgreich sein. Bisher hatte stets Monique im Rampenlicht gestanden. Es ist nicht gerecht, dachte sie, dass Gott Teresa diese Stimme geschenkt hat. Was ist, wenn sie damit berühmt wird? Dann werde ich zur unbeachteten Randfigur.
Deshalb versuchte Monique, ihre Schwester davon abzubringen, zum Probesingen zu gehen.
Am nächsten Sonntag hielt Madame Godard Teresa jedoch nach der Kirche an. »Ich habe mit meinem Neffen gesprochen«, sagte sie. »Er ist bereit, Sie Probe singen zu lassen. Er erwartet Sie am Mittwoch um fünfzehn Uhr.«
Und so kam es, dass die sehr nervöse Teresa am nächsten Mittwoch beim Sender Nizza erschien und den Direktor kennen lernte.
»Ich bin Louis Bonnet«, stellte er sich knapp vor. »Ich habe fünf Minuten Zeit für Sie.«
Teresas Aussehen bestätigte lediglich seine schlimmsten Befürchtungen. Seine Tante hatte ihm schon früher »Talente« geschickt.
Ich sollte ihr raten, in der Küche zu bleiben, dachte er. Aber er wusste, dass er das nicht tun würde, denn seine Tante war sehr reich - und er ihr einziger Erbe.
Teresa folgte Louis Bonnet durch einen engen Korridor in ein kleines Tonstudio.
»Haben Sie jemals professionell gesungen?«
»Nein, Monsieur.« Ihre Bluse war bereits durchgeschwitzt. Weshalb habe ich mich nur zu diesem Wahnsinn beschwatzen lassen? fragte Teresa sich. Sie hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre weggelaufen.
Bonnet stellte sie vor ein Mikrofon. »Ich habe heute keinen Klavierspieler, der Sie begleiten könnte, deshalb müssen Sie a capella singen. Wissen Sie, was a capella bedeutet?«
»Ja, Monsieur.«
»Wunderbar.« Er fragte sich - übrigens nicht zum ersten Mal -, ob seine Tante so reich war, dass all diese dämlichen Proben sich letzten Endes lohnen würden.
»Ich bin nebenan im Aufnahmeraum. Sie haben Zeit für ein Lied - nicht mehr.«
»Monsieur, was soll ich.?«
Bonnet war bereits fort. Teresa war allein und starrte ratlos das Mikrofon an. Sie wusste nicht, was sie singen sollte. »Gehen Sie einfach hin und reden Sie mit ihm«, hatte seine Tante gesagt. »Der Sender bringt jeden Samstagabend ein Musikprogramm, in dem Sie.«
Ich muss hier raus!
»Ich habe nicht den ganzen Nachmittag lang Zeit, Mademoiselle«, sagte die Stimme des Direktors von irgendwoher.
»Tut mir leid, ich kann nicht.«
Aber Bonnet war entschlossen, ihr heimzuzahlen, dass sie seine Zeit vergeudet hatte.
»Nur ein paar Noten«, verlangte er deshalb. Genug, damit er seiner Tante berichten konnte, wie sehr die Kleine sich blamiert hatte. Vielleicht hörte sie dann endlich auf, ihm ihre Schützlinge zu schicken.
»Ich warte«, sagte Bonnet.
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und zündete sich eine Gitane an. Noch vier Stunden bis Dienstschluss -danach erwartete ihn Yvette. Er würde sie in ihrem Appartement besuchen, bevor er zu seiner Frau heimfuhr. Vielleicht reichte die Zeit sogar für.
Dann hörte Bonnet etwas Unglaubliches: einen Sopran, der so rein und süß war, dass ihm kalte Schauder über den Rücken liefen. Eine Stimme, aus der Träume und Sehnsucht sprachen, die so eindringlich von Einsamkeit und Verzweiflung, von enttäuschter Liebe und zerstörten Hoffnungen sang, dass ihm die Tränen kamen. Sie weckte längst erstorben geglaubte Gefühle in Bonnet, so dass er sich nur fragen konnte: »Mein Gott, wo hat sie bisher bloß gesteckt?«
Ein Tontechniker, der zufällig hereingekommen war, hörte ebenfalls gebannt zu. Die Tür stand offen, und weiteres Senderpersonal, das durch die Stimme angelockt wurde, strömte zusammen. Alle standen ergriffen schweigend da und hörten zu, wie ein Herz verzweifelt nach Liebe rief.
Als der letzte Ton verklungen war, herrschte sekundenlang Schweigen, bevor eine der Frauen sagte: »Die dürfen wir auf keinen Fall weglassen!«
Louis Bonnet hastete aus dem Aufnahmeraum ins Tonstudio hinüber. Teresa wollte eben gehen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe, Monsieur. Wissen Sie, ich habe noch nie.«
»Nehmen Sie bitte Platz, Maria.«
»Teresa.«
»Verzeihung.« Bonnet holte tief Luft. »Wir strahlen jeden Samstagabend eine große Musikrevue aus.«
»Ja, ich weiß. Ich höre sie regelmäßig.«
»Wie würde es Ihnen gefallen, dabei mitzuwirken?«
Sie starrte ihn an, als traue sie ihren Ohren nicht recht. »Sie meinen. Sie wollen mich einstellen?«
»Ja, ab sofort. Sie fangen natürlich mit dem Mindestgehalt an. Aber das ist Ihre große Chance, bekannt zu werden.«