Raoul lächelte zustimmend. »Das verstehe ich gut.«
»Oh, aber Sie müssen doch viele Freunde haben!«
»Bekannte. Wie viele Freunde hat man letzten Endes tatsächlich?«
Teresa hatte das Gefühl, mit einem Spiegelbild zu sprechen. Die Stunde verging so rasch, und Raoul musste viel zu früh in den Laden zurück.
»Wollen Sie mir das Vergnügen machen, morgen Mittag mit mir zu essen?« fragte Raoul, als sie aufstanden.
Er war natürlich nur höflich. Teresa wusste recht gut, dass kein Mann sich zu ihr hingezogen fühlen konnte. Vor allem kein so wundervoller Mann wie Raoul Gira-dot. Sie konnte sich denken, dass er zu allen Frauen so höflich war.
»Danke, gern«, antwortete Teresa.
»Ich habe mir den Nachmittag frei genommen«, sagte Raoul jungenhaft lächelnd, als sie sich am nächsten Tag trafen. »Wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind, könnten wir doch nach Nizza hinunterfahren?«
Sie fuhren mit zurück geklapptem Cabrioverdeck die mittlere Corniche entlang und sahen die Stadt wie einen kostbaren Teppich unter sich ausgebreitet liegen. Teresa lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und dachte: Ich bin glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Und dann schuldbewusst: Ich bin für Monique glücklich.
Monique sollte am nächsten Tag aus Paris zurückkommen. Raoul würde Teresas Geschenk für ihre Schwester sein. Teresa war Realistin genug, um zu wissen, dass die Raouls dieser Welt nicht für sie bestimmt waren. Sie hatte schon genug gelitten und längst begriffen, was möglich und was irreal war. Der gutaussehende Mann am Steuer neben ihr verkörperte einen Traum, an den sie nicht einmal zu denken wagte.
In Nizza aßen sie im Restaurant Le Chantecler im Hotel Negresco. Das Essen war köstlich, aber Teresa hätte später nicht einmal sagen können, was sie eigentlich gegessen hatte. Sie hatte das Gefühl, Raoul und sie hätten sich ständig nur unterhalten. Sie hatten einander so vieles zu erzählen. Er war charmant und geistreich und schien Teresa interessant zu finden - wirklich interessant. Er fragte sie nach ihrer Meinung über viele Dinge und hörte aufmerksam zu, wenn sie antwortete. Sie waren sich über fast alle Themen einig. Man hätte glauben können, sie seien verwandte Seelen. Falls Teresa die bevorstehende Entwicklung bedauerte, verdrängte sie ihr Bedauern resolut.
»Hätten Sie Lust, morgen Abend zum Diner ins Schloss zu kommen? Meine Schwester kehrt von einem längeren Parisaufenthalt zurück. Ich möchte Sie ihr vorstellen.«
»Mit Vergnügen, Teresa.«
Als Monique am nächsten Tag nach Hause kam, beeilte Teresa sich, sie schon an der Tür zu begrüßen.
Obwohl Teresa sich vorgenommen hatte, dieses Thema nicht anzuschneiden, musste sie doch fragen: »Hast du in Paris irgendeinen interessanten Mann kennen gelernt?« Und sie hielt den Atem an, während sie auf die Antwort ihrer Schwester wartete.
»Dieselben langweiligen Kerle«, sagte Monique.
Damit stand Gottes endgültige Entscheidung fest.
»Ich habe für heute Abend jemand zum Diner eingeladen«, fuhr Teresa fort. »Er wird dir gefallen, glaube ich.«
Ich darf mir niemals anmerken lassen, wie viel er mir bedeutet, dachte Teresa.
An diesem Abend führte der Butler Raoul Giradot in den Salon, wo Teresa, Monique und ihre Eltern ihn erwarteten.
»Raoul Giradot - meine Eltern.«
»Guten Abend, Madame. Guten Abend, Monsieur.«
Teresa holte tief Luft. »Und meine Schwester Moni-que.«
»Guten Abend, Monsieur Giradot.« Moniques Lächeln war nur höflich.
Teresa beobachtete Raoul, weil sie fest damit rechnete, dass die Schönheit ihrer Schwester ihn wie ein Blitz treffen würde.
»Ich bin entzückt, Mademoiselle.« Auch Raoul war lediglich höflich.
Teresa stand mit angehaltenem Atem da und wartete auf die Funken, die zwischen den beiden überspringen mussten. Aber Raoul sah zu ihr herüber.
»Hübsch sehen Sie heute Abend aus, Teresa.«
»D-d-danke«, stotterte sie errötend.
An diesem Abend schien die ganze Welt Kopf zu stehen. Teresas Plan, Monique und Raoul zusammenzubringen, damit sie heirateten und Raoul ihr Schwager würde, kam seiner Verwirklichung keinen Schritt näher. Raoul konzentrierte seine Aufmerksamkeit unglaublicherweise ganz auf Teresa, die das Gefühl hatte, die Verwirklichung eines unmöglichen Traums zu erleben. Sie kam sich wie Aschenbrödel vor - jedoch mit dem Unterschied, dass sie die hässliche Schwester war und der Märchenprinz sich für sie entschieden hatte.
Das war irreal, aber es geschah tatsächlich, und Teresa merkte, dass sie sich gegen Raoul und seinen Charme zur Wehr setzte, weil sie wusste, dass alles zu schön war, um wahr zu sein, und sich davor fürchtete, erneut verletzt zu werden. In all diesen Jahren hatte sie ihre Gefühle verborgen, um vor dem Schmerz, den jede Zurückweisung brachte, sicher zu sein. Jetzt versuchte sie instinktiv, in dieser Haltung zu verharren. Aber Raoul Giradot war unwiderstehlich.
»Ich habe Ihre Tochter singen hören«, erklärte er ihren Eltern. »Sie ist ein Wunder!«
Teresa fühlte, dass sie errötete.
»Alle bewundern Teresas Stimme«, stellte Monique süß lächelnd fest.
Es war ein berauschender Abend. Aber das Beste stand Teresa erst noch bevor.
»Ihr Park ist wirklich prächtig«, sagte Raoul nach dem Diner. Er wandte sich an Teresa. »Hätten Sie Lust, ihn mir zu zeigen?«
Teresa sah rasch zu ihrer Schwester hinüber und versuchte ihre Reaktion zu erraten, aber Monique wirkte völlig indifferent.
Sie muss blind, taub und stumm sein, dachte Teresa.
Und dann erinnerte sie sich an die vielen Reisen Moni-ques nach Paris und Cannes und St. Tropez, wo sie ihren Märchenprinzen gesucht, aber nie gefunden hatte.
Es hat also nicht an den Männern gelegen. Schuld daran ist meine Schwester, die nicht weiß, was sie will. Teresa nickte Raoul zu. »Sehr gern.«
Als sie draußen waren, musste Teresa das Thema erneut ansprechen.
»Wie hat Ihnen Monique gefallen?«
»Sie scheint sehr nett zu sein«, antwortete Raoul. »Aber fragen Sie mich doch, wie mir ihre Schwester gefällt.«
Und er schloss Teresa in die Arme und küsste sie.
So etwas hatte Teresa noch nie erlebt. Sie zitterte in seinen Armen und dachte: Lieber Gott, ich danke dir. Oh, wie ich dir danke! »Gehen Sie morgen Abend mit mir essen?« fragte Raoul. »Ja«, flüsterte Teresa. »O ja!«
»Er scheint dich wirklich zu mögen«, sagte Monique, als die beiden Schwestern allein waren.
»Anscheinend«, antwortete Teresa schüchtern.
»Magst du ihn?«
»Ja.«
»Na, dann sei lieber vorsichtig, große Schwester«, riet Monique ihr lachend. »Sieh dich vor, damit du dich nicht Hals über Kopf in ihn verknallst!«
Zu spät, dachte Teresa hilflos. Zu spät.
Danach waren Raoul und Teresa tagtäglich zusammen. Im Allgemeinen begleitete Monique sie als Anstandsdame. In Nizza schlenderten sie zu dritt über die Strande und Promenaden und lachten über die Hotels im Zuckerbäckerstil. Sie aßen in Cap d’Antibes im Hotel du Cap zu Mittag und besuchten die Matisse-Kapelle in Vence. Sie dinierten im Chateau de la Chevre d’Or und in der berühmten Ferme St. Michel. Eines Morgens fuhren sie schon um fünf Uhr auf den Bauernmarkt in Monte Carlo und kauften frisches Brot, Obst und Gemüse.
Sang Teresa sonntags in der Kirche, kamen Raoul und Monique, um ihr zuzuhören. »Du bist wirklich ein Wunder«, sagte Raoul danach und umarmte sie. »Wenn du singst, könnte ich bis ans Ende meiner Tage zuhören.«
Vier Wochen nach ihrer ersten Begegnung hielt Raoul Giradot um Teresa de Fosses Hand an.