»Comprendo.«
Wer sind Rubio und Tomas und Largo Cortez? fragte Megan sich. Und was soll während des Stierkampfes in der Bank passieren? Sie hätte beinahe danach gefragt, hielt aber dann doch lieber den Mund. Wahrscheinlich wäre es ihnen nicht recht, wenn ich einen Haufen Fragen stellen würde.
Kurz vor Tagesanbruch rochen sie aus dem Tal vor ihnen aufsteigenden Rauch.
»Wartet hier«, flüsterte Jaime, »und verhaltet euch ruhig.«
Sie beobachteten, wie er in Richtung Waldrand davonschlich und verschwand.
»Was...?« begann Megan.
»Halt die Klappe!« fauchte Amparo Jiron.
Eine Viertelstunde später kam Jaime Miro zurück.
»Soldaten. Wir müssen ihr Lager umgehen.«
Sie holten fast einen Kilometer weit aus und blieben im Wald in Deckung, bis sie eine Nebenstraße erreichten. Vor ihnen lag eine Landschaft, die im ersten Morgenlicht nach gemähtem Heu und reifem Obst duftete.
Megans Neugier ging mit ihr durch. »Warum sind die Soldaten hinter Ihnen her?« fragte sie.
»Sagen wir mal, weil wir unterschiedlicher Meinung sind«, antwortete Jaime Miro ausweichend.
Und damit musste sie zufrieden sein. Vorerst, dachte Megan. Sie war entschlossen, mehr über diesen Mann in Erfahrung zu bringen.
»Hier bleiben wir, bis es dunkel wird«, entschied Jai-me, als sie eine halbe Stunde später eine geschützte Lichtung erreichten. Er sah zu Megan hinüber. »Heute Nacht müssen wir schneller marschieren.«
Sie nickte. »Einverstanden.«
Jaime nahm die Schlafsäcke und rollte sie aus.
»Sie können meinen haben, Schwester«, sagte Felix Carpio zu Megan. »Ich bin’s gewöhnt, auf der Erde zu schlafen.«
»Er gehört Ihnen«, wehrte Megan ab. »Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen.«
»Nimm ihn schon, verdammt noch mal!« fauchte Amparo sie an. »Wir haben keine Lust, wach gehalten zu werden, nur weil du Angst vor Spinnen hast.« Aus ihrem Tonfall sprach eine für Megan unverständliche Feindseligkeit.
Megan kroch wortlos in den angebotenen Schlafsack. Was hat sie bloß? fragte sie sich.
Dann beobachtete sie, wie Jaime in ihrer Nähe in seinen Schlafsack kroch. Amparo schlüpfte zu ihm hinein. Also deshalb, dachte Megan.
Jaime sah zu Megan hinüber. »Versuchen Sie, rasch einzuschlafen«, sagte er. »Wir haben noch einen langen Marsch vor uns.«
Gegen Mittag wachte Megan durch ein Stöhnen auf. Es klang, als habe jemand grässliche Schmerzen. Im Halbschlaf nahm Megan wahr, dass die Laute aus Jaimes Schlafsack kamen. Er muss schwer krank sein, war ihr erster Gedanke.
Das Stöhnen wurde lauter, und dann hörte sie Amparo Jiron sagen: »O ja, ja. Gib’s mir, Querida. Fester! Ja! Jetzt, jetzt!«
Megan wurde rot. Sie versuchte, ihre Ohren vor diesen Lauten zu verschließen, aber das war unmöglich. Und sie fragte sich, wie es wäre, wenn Jaime Miro sie lieben würde.
Dann bekreuzigte sie sich rasch und begann zu beten: Vater, vergib mir. Lass meine Gedanken stets nur bei dir sein. Lass meinen Geist dich suchen, damit er seinen Ursprung und seine Hoffnung in dir findet...
Aber die Geräusche gingen weiter. Erst als Megan glaubte, sie keine Sekunde länger ertragen zu können, verstummten sie abrupt. Aber es gab genügend andere Laute, die sie weiter wach hielten. Die Geräusche des Waldes und seiner Tierwelt umgaben sie von allen Seiten. Megan hatte ganz vergessen, wie laut die Welt außerhalb der Klostermauern sein konnte. Sie sehnte sich nach der wunderbaren Stille des Nonnenklosters zurück. Zu ihrem Erstaunen hatte sie sogar gelinde Sehnsucht nach dem Waisenhaus. Nach dem schrecklichen, wundervollen Waisenhaus.
14
Avila 1957
Sie hieß »Megan die Schreckliche«.
Sie hieß »Megan, der Teufel mit den blauen Augen«.
Sie hieß »Megan die Unmögliche«.
Sie war zehn Jahre alt.
Sie war als Kleinkind ins Waisenhaus gekommen, nachdem jemand sie vor der Tür eines Bauernpaars ausgesetzt hatte, das sie aber nicht hatte bei sich aufnehmen können.
Das Waisenhaus in Avila war ein schlichtes, einstöckiges, weißgekalktes Gebäude im ärmsten Viertel der Stadt, jenseits der Plaza de Santo Vincente. Geleitet wurde es von Mercedes Angeles, einer sehr männlich wirkenden Frau, deren rauhe Art über die Zuneigung hinwegtäuschte, die sie für ihre Schutzbefohlenen empfand.
Megan unterschied sich von den übrigen Kindern: sie war eine Fremde, die sich mit blondem Haar und leuchtendblauen Augen auffällig von den sonstigen schwarzhaarigen, schwarzäugigen Waisen abhob. Aber sie war von Anfang an auch in anderer Beziehung unterschiedlich: Megan war ein eigensinnig selbständiges Kind, eine Anführerin bei sämtlichen Streichen. Gab es irgendwo im Waisenhaus Unruhe oder Schwierigkeiten, konnte Mercedes Angeles sicher sein, dass Megan dahinter steckte.
Im Laufe der Jahre führte Megan Aufstände gegen schlechtes Essen an, versuchte, einen Kinderbund zu gründen, und verfiel auf clevere Methoden, zu denen ein halbes Dutzend Ausbruchsversuche gehörten, um das Aufsichtspersonal zu ärgern. Selbstverständlich war Megan bei den anderen Kindern sehr beliebt. Viele von ihnen waren älter als sie, aber alle suchten bei ihr Rat und Führung. Sie war eine geborene Führungspersönlichkeit. Und die kleineren Kinder hörten Megan gern Geschichten erzählen, denn sie besaß eine ausufernde Phantasie.
»Wer sind meine Eltern gewesen, Megan?«
»Ah, dein Vater ist ein gerissener Juwelendieb gewesen. Er ist mitten in der Nacht über ein Hoteldach geklettert, um den Brillantring einer berühmten Schauspielerin zu stehlen. Nun, als er den Ring gerade eingesteckt hatte, ist die Schauspielerin aufgewacht. Sie hat Licht gemacht und ihn gesehen.«
»Hat sie ihn verhaften lassen?«
»Nein. Er ist ein sehr gutaussehender Mann gewesen.«
»Was ist dann passiert?«
»Die beiden haben sich verliebt und haben geheiratet. Danach bist du auf die Welt gekommen.«
»Aber warum haben sie mich ins Waisenhaus gesteckt? Haben sie mich nicht lieb gehabt?«
Das war immer der schwierigste Teil. »Natürlich haben sie dich lieb gehabt. Aber. na ja. sie sind in der Schweiz beim Skifahren von einer schrecklichen Lawine erfasst und getötet worden.«
»Was ist eine Lawine, Megan?«
»Dabei kommt ein Riesenhaufen Schnee den Berg runter und verschüttet Menschen.«
»Und meine Eltern sind beide umgekommen?«
»Ja. Und ihre letzten Worte haben dir gegolten - dass sie dich lieben. Aber du hast keine Verwandten gehabt, die dich hätten aufnehmen können, deshalb bist du hierher gekommen.«
Megan hätte so gern wie alle anderen gewusst, wer ihre Eltern gewesen waren, und dachte sich abends vor dem Einschlafen Geschichten für sich selbst aus. »Mein Vater ist Offizier im Bürgerkrieg gewesen«, sagte sie sich beispielsweise. »Er war Hauptmann und sehr tapfer. Er ist verwundet worden, und meine Mutter hat ihn als Krankenschwester gesund gepflegt. Die beiden haben geheiratet, und er ist an die Front zurückgekehrt und gefallen. Meine Mutter ist zu arm gewesen, um mich behalten zu können, deshalb hat sie mich bei dem Bauern ausgesetzt - und das hat ihr das Herz gebrochen.« Und sie weinte vor Mitleid mit ihrem tapferen toten Vater und ihrer trauernden Mutter.
Oder: »Mein Vater ist Stierkämpfer gewesen - einer der größten Matadore. Ganz Spanien hat ihn geliebt und ihm zugejubelt. Und meine Mutter war eine wunderschöne Flamencotänzerin. Die beiden sind glücklich verheiratet gewesen, aber er ist eines Tages von einem riesigen, schrecklich gefährlichen Stier tödlich verletzt worden. Danach hat meine Mutter sich von mir trennen müssen.«