Diese Bestimmung kannte Megan natürlich längst. Aber sie hatte sie verdrängt, um nicht mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte, dass niemand sie haben wollte und dass sie wieder ausgesetzt werden würde.
»Muss ich. muss ich also fort?«
Die freundliche Amazone war bekümmert, aber ihr blieb keine andere Wahl. »Wir müssen uns an die Bestimmungen halten, fürchte ich. Vielleicht können wir dir eine Stellung als Dienstmädchen beschaffen.«
Megan fand keine Worte.
»Wohin möchtest du gehen?« fragte Pater Berrendo sie.
Als Megan jetzt darüber nachdachte, fiel ihr ein, wohin sie gehen könnte.
Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie sich damit ein Taschengeld verdient, dass sie für Geschäfte Waren ausgetragen hatte - viele davon ins Zisterzienserinnenklos-ter. Dort war Megan jedes Mal von Ehrwürdiger Mutter Betina empfangen worden. Sie hatte die Nonnen beten oder über die Korridore wandeln sehen und war von ihrer heiteren Gelassenheit beeindruckt gewesen. Sie beneidete die Nonnen um ihren Seelenfrieden. Das Kloster Avila war Megan stets als ein Haus der Liebe erschienen.
Die Ehrwürdige Mutter hatte das aufgeweckte Mädchen ins Herz geschlossen und im Laufe der Jahre häufig lange Gespräche mit Megan geführt.
»Weshalb gehen Menschen ins Kloster?« hatte Megan sie einmal gefragt.
»Sie kommen aus unterschiedlichen Gründen zu uns. Die meisten wollen ihr Leben Gott weihen. Andere kommen jedoch, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Wir geben ihnen Hoffnung. Wieder andere kommen, weil sie am Sinn des Lebens verzweifeln. Wir zeigen ihnen, dass Gott dieser Sinn ist. Einige flüchten sich vor der Welt hinter unsere Mauern. Und manche kommen, weil sie entwurzelt sind und im Kloster eine Heimat suchen.«
Das hatte in dem jungen Mädchen eine vertraute Saite zum Klingen gebracht. Ich habe niemals ein richtiges Zuhause gehabt, dachte Megan. Dies ist meine Chance.
»Ich glaube, ich möchte ins Kloster gehen.«
Sechs Wochen später legte Megan ihr Gelübde ab.
Damit hatte Megan gefunden, was sie so lange gesucht hatte. Hier war sie endlich zu Hause. Die anderen waren ihre Schwestern - die Familie, die sie nie gehabt hatte -, und sie waren alle eins unter ihrem Vater.
Im Kloster arbeitete Megan als Buchhalterin und hielt die Aufzeichnungen über den Wirtschaftsbetrieb auf dem laufenden. Vom ersten Tag an faszinierte sie die alte Zeichensprache, die der Verständigung zwischen den Schwestern und der Ehrwürdigen Mutter diente. Insgesamt gab es 472 Zeichen, mit denen sich wortlos alles ausdrücken ließ, was mitzuteilen war.
War beispielsweise eine Schwester an der Reihe, in den langen Korridoren Staub zu wischen, hielt Ehrwürdige Mutter Betina ihre waagrechte rechte Hand mit den Fingerspitzen an die Lippen und blies über den Handrücken. Hatte eine Nonne Fieber, ging sie zur Äbtissin und drückte die Spitzen von Zeige - und Mittelfinger der rechten Hand gegen die Außenseite ihres linken Handgelenks. Sollte einer Bitte erst später stattgegeben werden, hielt Ehrwürdige Mutter Betina ihre rechte Faust vor die rechte Schulter und machte eine Bewegung vom Körper weg nach unten. Morgen.
An einem trüben Novembertag lernte Megan erstmals das Sterberitual der Zisterzienserinnen kennen. Als eine Nonne im Sterben lag, ertönte eine hölzerne Klapper und gab damit das Zeichen für den Beginn eines seit dem Jahre 1030 unverändert beibehaltenen Rituals. Alle abkömmlichen Schwestern eilten ins Krankenzimmer, um die Letzte Ölung mit Psalmen zu begleiten. Sie flehten die Heiligen schweigend um ihre Fürbitte für die Seele ihrer heimgehenden Mitschwester an. Um das Zeichen für die Erteilung der Sterbesakramente zu geben, streckte die Äbtissin die linke Hand mit der Handfläche nach oben aus und machte darauf mit dem rechten Daumen das Kreuzzeichen.
Und zuletzt folgte das Zeichen für den eingetretenen Tod: eine Schwester legte die Spitze ihres rechten Daumens unter das Kinn der Verstorbenen und hob es leicht an.
Nach den letzten Gebeten wurde der Leichnam eine Stunde lang allein gelassen, damit die Seele in Frieden scheiden konnte. Am Fußende des Totenbetts brannte der große Wachsstock, das christliche Symbol des ewigen Lichts, auf seinem hölzernen Ständer.
Die Schwester Infirmarin wusch die Leiche und legte ihr das Totengewand an: schwarzes Skapulier über weißem Habit, grobwollene Strümpfe und handgenähte Sandalen. Aus dem Klostergarten brachte eine der Nonnen eine Blütenkrone, die sie der Toten aufs Haupt setzte. Danach trugen sechs der Schwestern sie in feierlicher Prozession in die Kirche, um sie vor dem Altar aufzubahren. Da sie vor ihrem Gott nicht allein gelassen werden sollte, blieben zwei Nonnen für den Rest des Tages und die Nacht hindurch betend dicht neben ihr, und der Wachsstock brannte weiterhin flackernd an ihrer Seite.
Am nächsten Nachmittag nach dem Requiem wurde die Verstorbene von Mitschwestern durchs Kloster zur Beisetzung auf ihrem eigenen, von Mauern umgebenen Friedhof getragen, auf dem die Nonnen noch im Tode von der Welt abgeschieden waren. Die Schwestern - je drei auf einer Seite - ließen sie an weißen Leinenbändern vorsichtig ins Grab hinab. Nach Zisterzienserbrauch wurde auch diese Tote ohne Sarg der Erde übergeben. Und zwei Nonnen erwiesen ihrer Schwestern den letzten Liebesdienst, indem sie den Leichnam sanft zuschaufelten, bevor sie alle in die Kirche zurückkehrten, um den Bußpsalm zu beten. Dreimal baten sie Gott, Erbarmen mit ihrer Seele zu haben:
»Domine, miserere super peccatrice.« »Domine, miserere super peccatrice.« »Domine, miserere super peccatrice.«
Die junge Schwester Megan litt häufig unter melancholischen Anwandlungen. Das Klosterleben brachte ihr innere Gelassenheit, aber keinen völligen Frieden. Es war, als fehle ein Stück ihrer selbst. Sie empfand Sehnsüchte, die sie längst hätte vergessen sollen. Sie ertappte sich dabei, dass sie an Freundinnen aus dem Waisenhaus dachte und sich fragte, was wohl aus ihnen geworden sein mochte. Und sie fragte sich, was in der Welt außerhalb der Klostermauern geschah - jener Welt, der sie entsagt hatte, einer Welt, in der es Musik und Tanz und Lachen gab.
Megan suchte Ehrwürdige Mutter Betina auf.
»Das erleben wir alle gelegentlich«, versicherte die Äbtissin ihr. »Die Kirche bezeichnet diesen Zustand als A-cedia. Er ist eine geistige Erkrankung, ein Werkzeug des Satans. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Kind. Er gibt sich wieder.«
Und sie behielt recht.
Was sich jedoch nicht gab, war Megans heißer Wunsch, zu wissen, wer ihre Eltern waren. Das werde ich niemals erfahren, dachte sie verzweifelt. Mein Leben lang nicht.
15
New York City 1976
Die vor der grauen Fassade des New Yorker Hotels Waldorf-Astoria versammelten Reporter beobachteten die Ankunft der Prominenz, die in Abendkleidung aus ihren Limousinen stieg, durch die Drehtüren ging und zum Grand Ballroom im zweiten Stock hinauffuhr. An diesem Abend kamen die Gäste aus aller Welt.
Elektronenblitze flammten auf, während Fotografen riefen: »Mister Vice President, sehen Sie bitte hierher?«
»Gouverneur Adams, bitte noch eine Aufnahme!«
Zu den Gästen gehörten prominente Politiker, Industriebosse, Bankpräsidenten, Kirchenvertreter und Künstler aus dem In- und Ausland. Sie alle waren gekommen, Ellen Scotts sechzigsten Geburtstag mitzufeiern. Tatsächlich würdigten sie damit jedoch weniger Ellen Scott als die Philanthropie der Firma Scott Industries, eines der größten Mischkonzerne der Welt. Zu diesem weltumspannenden Imperium gehörten Banken, Ölgesellschaften, Stahlwerke, Autofabriken, Zeitungen, Reedereien, Versicherungen, Fluggesellschaften und Dutzende von weiteren Unternehmen.