Jetzt blieb der Pilot vor ihm stehen.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber vor uns steht eine Gewitterfront. Sie sieht ziemlich schlimm aus. Möchten Sie lieber umkehren?«
Byron Scott sah aus seinem kleinen Fenster. Die Maschine flog durch bis zum Horizont reichende graue Kumulustürme, die alle paar Sekunden von noch entfernten Blitzen erhellt wurden. »Ich habe heute Abend in Madrid eine Besprechung. Können Sie das Gewitter nicht umfliegen?«
»Ich kann’s versuchen. Falls das nicht gelingt, muss ich umkehren.«
Byron Scott nickte. »Einverstanden.«
»Schnallen Sie sich bitte an.«
Der Pilot hastete nach vorn ins Cockpit zurück.
Susan Scott hatte das Gespräch mitgehört. Sie nahm ihre kleine Tochter vom Sitz, hielt sie in den Armen und wünschte sich plötzlich, sie hätte sie nicht mitgenommen. Ich muss Byron sagen, er soll den Piloten anweisen, gleich umzukehren, dachte sie.
»Byron.«
Im nächsten Augenblick wurden sie vom Sturm erfasst, und das Flugzeug begann in heftigen Böen auf und ab zu tanzen. Das Bocken und Rütteln wurde immer schlimmer. Regen trommelte gegen die Fenster. In den Wolken war die Sicht auf Null zurückgegangen. Die Passagiere hatten das Gefühl, sich in einer tanzenden Nussschale auf einem Meer aus Watte zu befinden.
Byron Scott schaltete die Bordsprechanlage ein. »Wo sind wir, Blake?«
»Hundert Kilometer nordwestlich von Madrid - ziemlich genau über Avila.«
Scott warf erneut einen Blick aus dem Fenster. »Ich muss heute Abend nicht mehr nach Madrid. Wir kehren um und sehen zu, dass wir hier rauskommen.«
»Verstanden.«
Dieser Entschluss war eine Minute zu spät gekommen. Als der Pilot die Maschine in eine Linkskurve legte, ragte plötzlich ein Berggipfel vor ihm auf. Der Aufprall war nicht mehr zu vermeiden. Metall kreischte auf, als das Flugzeug gegen den Berg krachte und auseinanderbrach, so dass seine Teile über ein Hochplateau verstreut wurden.
Danach schien eine Ewigkeit lang unnatürliche Stille zu herrschen, die erst durch das Knistern und Prasseln der Flammen unterbrochen wurde, die den Flugzeugrumpf zu verzehren begannen.
»Ellen.«
Ellen Scott schlug die Augen auf. Sie lag unter einem Baum. Ihr Mann beugte sich über sie und rüttelte sie an den Schultern. Als er sah, dass sie wieder zu sich gekommen war, atmete er erleichtert auf. »Gott sei Dank -du lebst!«
Ellen Scott setzte sich benommen auf. Sie hatte pochende Kopfschmerzen, und jeder Muskel ihres Körpers schmerzte. Sie betrachtete die zerfetzten Wrackteile, die einst ein Flugzeug gewesen waren, und fuhr zusammen.
»Die anderen?« fragte sie heiser.
»Tot, alle tot.«
Sie starrte ihren Mann an. »Großer Gott, das darf nicht wahr sein!«
Milo nickte, sichtlich geschockt. »Byron, Susan, Patricia, die Piloten - alle tot!«
Ellen Scott schloss erneut die Augen und schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel. Warum sind Milo und ich verschont geblieben? fragte sie sich. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir müssen ins Tal und Hilfe holen. Aber die käme zu spät. Sie sind alle tot. Das war unmöglich zu begreifen. Noch vor wenigen Minuten waren alle noch so voller Leben gewesen.
»Kannst du aufstehen?«
»Ich. ich glaube schon.«
Milo Scott zog seine Frau hoch. Sie erlitt einen starken Schwindelanfall und blieb hilflos stehen, während sie darauf wartete, dass er abklang.
Milo sah sich nach dem Flugzeug um. Die Flammen schlugen bereits höher. »Los, wir müssen weg!« drängte er. »Das verdammte Ding kann jeden Augenblick explodieren.«
Die beiden hasteten davon und machten in sicherer Entfernung erneut halt, um den Brand zu beobachten. Sekunden später explodierten die Treibstofftanks und hüllten das Wrack in Flammen.
»Ein Wunder, dass wir noch leben«, stellte Milo fest.
Ein Wunder - aber nicht für die anderen.
Ellen starrte das brennende Flugzeugwrack an. Irgendetwas versuchte, sich am Rande ihres Bewusstseins bemerkbar zu machen, aber sie hatte Mühe, es zu erfassen. Irgendetwas mit Scott Industries. Aber dann wusste sie’s plötzlich.
»Milo?«
»Ja?« Er hörte gar nicht richtig zu.
»Dies ist ein Wink des Schicksals.«
Die Inbrunst in ihrer Stimme brachte ihn dazu, sich ruckartig umzudrehen. »Wie meinst du das?«
»Scott Industries. jetzt gehört alles dir!«
»Ich verstehe nicht, was.«
»Milo, Gott hat sie dir geschenkt«, behauptete Ellen mit vor Erregung heiserer Stimme. »Du hast dein Leben lang im Schatten deines großen Bruders gestanden. Du hast zwanzig Jahre lang für Byron geschuftet und die Firma mit ihm aufgebaut. Dass sie erfolgreich gewesen ist, ist ebenso dein Verdienst gewesen - aber hat Byron das jemals anerkannt? Nein! Es ist immer seine Firma, sein Erfolg und sein Gewinn gewesen. Aber jetzt hast du endlich eine Chance, dich selbst zu beweisen.«
Er starrte sie entsetzt an. »Ellen.. sie sind noch keine. Wie kannst du nur an so was.?«
»Ich weiß, was du sagen willst. Aber wir haben sie nicht umgebracht. Jetzt sind wir an der Reihe, Milo! Wir haben’s endlich geschafft. Außer uns kann niemand Anspruch auf die Firma erheben. Sie gehört uns! Dir!«
Im nächsten Augenblick hörten sie ein Kleinkind schreien. Ellen und Milo Scott starrten sich ungläubig an.
»Das ist Patricia. Großer Gott, sie lebt!«
Sie fanden die Kleine in der Nähe einer Buschgruppe. Wie durch ein Wunder war sie unverletzt.
Milo hob sie auf und drückte sie sanft an sich. »Pst! Alles ist wieder gut, mein Schatz«, flüsterte er. »Alles wird wieder gut.«
Ellen, die neben ihm stand, war sichtlich schockiert. »Du. du hast gesagt, sie sei tot.«
»Sie muss zunächst bewusstlos gewesen sein.«
Ellen starrte die kleine Patricia lange an. »Sie hätte mit den anderen umkommen sollen«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Er starrte sie entsetzt an. »Was soll das heißen?«
»Byron hat Patricia in seinem Testament als Alleinerbin eingesetzt. Du kannst dich darauf einstellen, die nächsten zwanzig Jahre als ihr Statthalter zu fungieren, damit sie dich als Volljährige ebenso schäbig behandeln kann, wie’s ihr Vater getan hat. Willst du das wirklich?«
Milo Scott schwieg.
»So eine Chance bekommen wir nie wieder!« Ellen starrte die Kleine mit einem Blick an, den Milo noch nie bei ihr gesehen hatte. Man hätte glauben können, sie spiele mit dem Gedanken.
Sie ist nicht bei klarem Verstand. Sie muss eine Gehirnerschütterung haben. »Um Himmels willen, woran denkst du, Ellen?«
Sie erwiderte Milos Blick sekundenlang, dann erlosch das wilde Feuer in ihren Augen. »Das weiß ich selbst nicht«, antwortete sie ruhig. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber wir können etwas unternehmen. Wir können sie irgendwo aussetzen, Milo. Der Pilot hat gesagt, wir seien in der Nähe von Avila. Dort sind immer viele Touristen. Niemand hätte Anlass, ein ausgesetztes Kleinkind mit dem Flugzeugabsturz in Verbindung zu bringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Byrons und Susans Freunde wissen, dass sie Patricia mitgenommen haben.«
Ellen starrte das brennende Flugzeugwrack an. »Das wäre kein Problem. Außer uns sind alle beim Absturz verbrannt. Wir halten hier oben einen privaten Gedenkgottesdienst ab.«
»Das ist unmöglich, Ellen!« protestierte er. »Damit kämen wir niemals durch!«
»Gott hat uns diese Chance gegeben. Wir werden damit durchkommen.«
Milo drückte seien kleine Nichte an sich. »Aber sie ist so.«
»Hier fehlt ihr nichts«, beruhigte Ellen ihn. »Wir setzen sie auf irgendeinem Bauernhof außerhalb der Stadt aus. Dort wird sie adoptiert und wächst glücklich und zufrieden auf.«