Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich bring’s nicht über mich. Nein, Ellen!«
»Wenn du mich liebst, tust du’s für uns. Du musst dich entscheiden, Milo. Du kannst mich haben - oder für den Rest deines Lebens für deine Nichte schuften.«
»Bitte, ich.«
»Liebst du mich?« »Mehr als mein Leben«, sagte er einfach.
»Dann musst du’s jetzt beweisen.«
Ellen und Milo, der Patricia trug, stiegen vorsichtig durch die sturmgepeitschte Dunkelheit ab. Da die Absturzstelle hoch in bewaldeten Bergen lag, waren das Krachen und die Explosionsgeräusche nicht bis ins Tal gedrungen, so dass die Einwohner Avilas noch nichts von dem Absturz wussten.
Es war noch nicht Mitternacht, als sie nach vierstündigem Abstieg ein kleines Bauernhaus unweit von Avila erreichten.
»Hier lassen wir sie zurück«, flüsterte Ellen.
Er unternahm einen letzten Versuch. »Ellen, könnten wir sie nicht.?«
»Los!« fauchte sie aufgebracht.
Milo machte wortlos kehrt und trüg seine schlafende Nichte zur Tür des Bauernhauses. Patricia trug nur ein zerfetztes rosa Hemdchen und war in eine Wolldecke gewickelt.
Milo Scott hatte Tränen in den Augen, als er die Kleine zum letzten Mal anstarrte, bevor er sie sanft niederlegte.
»Ich wünsche dir ein schönes Leben, Schatz«, flüsterte er dabei.
Das Weinen weckte Asuncion Moras auf. Im Halbschlaf dachte sie zunächst, sie habe eine Ziege meckern oder ein Schaf blöken hören. Wie war es aus dem Pferch herausgekommen?
Sie stand brummelnd aus ihrem warmen Bett auf, schlüpfte in einen aus gebleichten Morgenrock und ging zur Tür.
»Madre de Dios!« rief sie aus, als sie das kleine Kind strampelnd und schreiend auf der Erde liegen sah, und rief nach ihrem Mann.
Sie holten das Kind herein und starrten es an. Die Kleine wollte nicht zu schreien aufhören und schien allmählich blau anzulaufen.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.«
Sie wickelten das kleine Mädchen hastig in eine weitere Decke, trugen sie zu ihrem Pritschenwagen und fuhren sie ins Krankenhaus. Dort saßen sie fast eine halbe Stunde lang unbeachtet auf einer Bank im Korridor, bis ein Arzt kam und ihnen die Kleine abnahm, um sie zu untersuchen.
»Sie hat eine Lungenentzündung«, sagte er, als er zurückkam.
»Kommt sie durch?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
Milo und Ellen Scott kamen ins Polizeirevier Avila gestolpert.
Der Wachhabende zog die Augenbrauen hoch, als er die beiden erschöpften Touristen sah. »Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«
»Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben«, berichtete Milo. »Unser Flugzeug ist in den Bergen abgestürzt und.«
Eine Stunde später war eine Rettungsmannschaft zur Absturzstelle in den Bergen unterwegs. Als sie den Unfallort endlich erreichte, fand sie lediglich die noch rauchenden, verkohlten Überreste eines Flugzeugs und seiner Passagiere.
Die Untersuchung der Unfallursache durch die spanischen Behörden war oberflächlich.
»Der Pilot hätte nicht versuchen dürfen, ein so heftiges Gewitter zu durchfliegen«, lautete die Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses. »So ist der Unfall letztlich auf menschliches Versagen zurückzuführen.«
In Avila hatte niemand Anlass, eine Verbindung zwischen dem Flugzeugabsturz und dem vor einem Bauernhaus ausgesetzten kleinen Mädchen herzustellen.
Es war geschafft.
Es fing damit erst an.
Milo und Ellen Scott hielten in Avila einen privaten Gedenkgottesdienst für Byron Scott, seine Frau Susan und ihre Tochter Patricia ab.
Nach ihrer Rückkehr nach New York fand ein zweiter Gedenkgottesdienst statt, an dem die erschütterten Freunde der Scotts teilnahmen.
»Was für eine schreckliche Tragödie! Und die arme kleine Patricia!«
»Ja«, bestätigte Ellen Scott mit Trauermiene. »Der einzige Trost ist, dass alles so schnell passiert ist, dass keiner von ihnen hat leiden müssen.«
Byron Scotts Unfalltod ließ die amerikanische Wirtschaft erbeben.
Der Kurs der Aktien von Scott Industries fiel ins Bodenlose. Aber das beunruhigte Ellen Scott keineswegs.
»Das braucht dir kein Kopfzerbrechen zu machen«, versicherte sie ihrem Mann. »Der Kurs steigt auch wieder. Du bist besser, als Byron jemals gewesen ist. Er hat die Firma eher gebremst, Milo. Du wirst dafür sorgen, dass sie sich weiterentwickelt.«
Milo schloss sie in die Arme. »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich zurechtkäme.«
Sie lächelte. »Das brauchst du nie mehr. In Zukunft werden wir alles bekommen, was wir uns je erträumt haben.«
Sie hielt ihn an sich gedrückt und dachte: Wer hätte geglaubt, dass Ellen Dudash aus einer armen polnischen Familie in Gary, Indiana, eines Tages würde sagen können: »In Zukunft werden wir alles bekommen, was wir uns je erträumt haben?«
Und dass das ihr Ernst sein würde.
Das kleine Mädchen lag zehn Tage auf Leben und Tod im Krankenhaus, und als die Krise vorüber war, besuchte Pater Berrendo Jose Moras und seine Frau.
»Ich habe frohe Nachrichten für Sie«, verkündete er heiter. »Die Kleine ist bald wieder ganz gesund.«
Das Ehepaar Moras wechselte einen unbehaglichen Blick.
»Freut mich für sie«, antwortete der Bauer ausweichend.
Pater Berrendo strahlte. »Sie ist ein Geschenk Gottes.«
»Gewiss, Pater. Aber meine Frau und ich haben die Sache durchgesprochen und eingesehen, dass Gott es allzu gut mit uns gemeint hat. Sein Geschenk muss ernährt werden. Wir können es uns nicht leisten, die Kleine aufzuziehen.«
»Aber sie ist ein so hübsches Kind«, stellte Pater Ber-rendo fest. »Und.«
»Ganz recht. Aber meine Frau und ich sind alt und krank und können nicht die Verantwortung für ein kleines Kind übernehmen. Gott wird sein Geschenk zurücknehmen müssen.«
Und so geschah es, dass das kleine Mädchen, das niemand haben wollte, ins Waisenhaus Avila kam.
Sie saßen zur Testamentseröffnung in der Kanzlei von Byron Scotts Rechtsanwalt. Ellen war von fast unerträglicher Spannung erfüllt. Einige wenige Sätze würden Milo und sie steinreich machen.
Wir kaufen alte Meister und eine Villa in Südengland und ein Schloss in Frankreich. Und das ist erst der Anfang.
Der Anwalt begann zu sprechen, und Ellen konzentrierte sich auf ihn. Sie hatte vor einigen Monaten eine Abschrift von Byrons Testament gelesen und erinnerte sich genau an den Wortlaut der entscheidenden Passage:
Sollten meine Frau und ich sterben, vermache ich meine sämtlichen Anteile an der Firma Scott Industries meinem einzigen Kind Patricia und ernenne meinen Bruder Milo zum Testamentsvollstrecker, bis sie volljährig ist und die Führung des Konzerns übernehmen kann.
Nun, das hat sich jetzt alles geändert! dachte Ellen aufgeregt.
»Für uns alle ist das ein grausiger Schock gewesen«, sagte Lawrence Gray, der Rechtsanwalt. »Ich weiß, wie sehr Sie an Ihrem Bruder gehangen haben, Milo, und was die niedliche Kleine betrifft.« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, das Leben geht weiter. Sie wissen vielleicht nicht, dass Ihr Bruder sein Testament geändert hat. Ich will Sie nicht mit juristischen Floskeln langweilen, sondern Ihnen nur die entscheidende Bestimmung vorlesen.«
Gray blätterte in dem Testament, bis er den gesuchten Absatz gefunden hatte.
»Ich ändere mein Testament dahingehend ab, dass meine Tochter fünf Millionen Dollar in bar sowie lebenslänglich eine Apanage von einer Million Dollar pro Jahr erhält. Alle meine Anteile an Scott Industries vermache ich meinem Bruder Milo als Anerkennung für die treuen und wertvollen Dienste, die er der Firma im Laufe der Jahre erwiesen hat.«