»Das klingt fast so, als.«
»Als ob ich ihn bewunderte? Ich bewundere seinen Verstand. Ich verachte den Mann.«
»Wissen Sie, wohin Miro unterwegs ist?«
»Er will nach Norden. Ich fange ihn innerhalb der nächsten drei Tage ab.«
Oberst Sostelo starrte Acoca verblüfft an.
»Dann ist er endlich schachmatt.«
Tatsächlich konnte Acoca sich in Jaime Miro hineinversetzen und wusste, was der andere dachte, aber das genügte ihm nicht.
Der Oberst wollte einen Vorteil, der ihm den Sieg garantieren würde, und hatte ihn sich verschafft.
»Wie.?«
»Einer von Miros Terroristen«, sagte Oberst Acoca, »arbeitet als Spitzel für uns.«
Rubio, Tomas und die beiden Klosterschwestern mieden größere Städte, blieben auf Nebenstraßen, die durch alte Dörfer führten, und kamen an Schaf- und Ziegenherden vorbei, deren Hirten mit ihren Transistorradios Musik und Fußballübertragungen hörten. Dieser farbenprächtige Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart war reizvoll, aber Lucia hatte andere Dinge im Kopf.
Sie blieb in Schwester Teresas Nähe und lauerte auf eine Gelegenheit, das Kruzifix an sich zu bringen und damit zu verschwinden. Aber die beiden Männer waren stets in ihrer Nähe. Rubio Arzano war der rücksichtsvollere von den beiden, ein großer, freundlich aussehender, fröhlicher Mann. Ein einfältiger Bauernlümmel, lautete Lucias Einschätzung.
Im Gegensatz zu seinem Kameraden war Tomas Sanju-ro ein schmächtiger Mann mit beginnender Glatze. Er hat mehr Ähnlichkeit mit einem Schuhverkäufer als mit einem Terroristen. Die beiden sind bestimmt leicht zu überlisten.
Nachts zogen sie über die Ebenen nördlich von Avila, über die kühle Winde von der Guarramasteppe hinwegwehten. Im Mondschein wirkten die Ebenen gespenstisch verlassen. Die vier Wanderer kamen an Granjas mit Weizen, Olivenbäumen, Rebstöcken und Mais vorbei, holten sich Kartoffeln und Salat von den Feldern und bereicherten ihren Speisezettel mit Eiern und Hennen aus Hühnerställen.
»Auf dem Land ist ganz Spanien ein einziger großer Markt«, behauptete Rubio Arzano.
»Und alles ist umsonst!« fügte Tomas Sanjuro grinsend hinzu.
Schwester Teresa nahm ihre Umgebung kaum noch wahr. Ihr einziger Gedanke galt dem Kloster Mendavia, das sie erreichen musste. Das Kruzifix wurde ihr allmählich fast zu schwer, aber sie war entschlossen, es unter keinen Umständen aus der Hand zu geben. Bald, dachte sie, wir sind bald da. Wir fliehen aus dem Garten Gethsemane und vor unseren Feinden in das neue Haus, das der Herr uns bereitet hat.
»Was hast du gesagt?« fragte Lucia.
Schwester Teresa hatte nicht gemerkt, dass sie laut gesprochen hatte.
»Ich. oh, nichts«, murmelte sie.
Lucia warf ihr einen prüfenden Blick zu. Die ältere Frau wirkte geistesabwesend und desorientiert; sie schien nicht recht wahrzunehmen, was um sie herum geschah.
Lucia zeigte auf den in ein Leinentuch gehüllten Gegenstand, den Schwester Teresa in den Armen hielt. »Das sieht ziemlich schwer aus«, sagte sie mitfühlend. »Soll ich’s eine Zeitlang tragen?«
Schwester Teresa drückte ihn noch enger an sich. »Christus hat eine schwerere Bürde getragen. Ich kann diese für ihn tragen.« Wie es bei Lukas hieß: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.
»Ich trage es weiter«, stellte Teresa nachdrücklich fest.
Ihre Stimme klang irgendwie merkwürdig.
»Alles in Ordnung? Geht’s dir gut, Schwester?«
»Natürlich!«
In Wirklichkeit ging es Schwester Teresa keineswegs gut. Sie fand keinen Schlaf mehr und litt unter fiebrigen Schwindelanfällen. Ihr Verstand spielte ihr wieder Streiche. Ich darf nicht krank werden, dachte sie, sonst schimpft Schwester Betina mich aus. Aber Schwester Betina war nicht da. Alles war so verwirrend. Und wer waren diese Männer? Ich traue ihnen nicht. Was haben sie mit mir vor?
Rubio Arzano hatte versucht, ein Gespräch mit Schwester Teresa anzuknüpfen, um ihre sichtbare Verkrampfung etwas zu lockern.
»Für Sie ist’s bestimmt merkwürdig, wieder draußen in der Welt zu sein, Schwester. Wie lange sind Sie im Kloster gewesen?«
Wozu will er das wissen? »Dreißig Jahre.«
»Hm, das ist eine lange Zeit. Und woher stammen Sie?«
Für sie war es schmerzlich, dieses Wort auch nur auszusprechen. »Eze in Frankreich.«
Seine Miene hellte sich auf. »Eze? Ich bin mal im Urlaub dort gewesen. Eine hübsche kleine Stadt. Ich kenne sie gut. Ich weiß noch, wie.«
Er kennt sie gut. Wie gut? Kennt er auch Raoul? Hat Raoul ihn geschickt? Und dann traf die Erkenntnis sie wie ein Blitzstrahl. Diese Unbekannten hatten den Auftrag, sie zu Raoul Giradot nach Eze zurückzubringen, weil sie Moniques Baby verlassen hatte. Sie war sich jetzt ganz sicher, dass das Baby, das sie in Villacastin auf dem Dorfplatz gesehen hatte, das Kind ihrer Schwester Monique gewesen war. Aber das kann eigentlich nicht sein, murmelte Teresa vor sich hin. Das ist vor dreißig Jahren gewesen. Diese Leute belügen mich.
Rubio Arzano beobachtete sie und versuchte zu verstehen, was sie murmelte.
»Fehlt Ihnen was, Schwester?«
Schwester Teresa wich vor ihm zurück. »Nein.«
Jetzt war sie ihnen auf die Schliche gekommen. Sie würde nicht zulassen, dass diese Männer sie zu Raoul und dem Baby zurückbrachten. Sie musste das goldene Kruzifix ins Kloster Mendavia bringen, dann würde Gott ihr ihre schreckliche Sünde vergeben. Ich muss klug sein wie eine Schlange. Sie dürfen nicht merken, dass ich hinter ihr Geheimnis gekommen bin.
Schwester Teresa blickte zu Rubio Arzano auf. »Mir fehlt nichts«, versicherte sie ihm.
Sie zogen weiter über die trockene, von der Sonne ausgedörrte Ebene und erreichten ein kleines Dorf, in dem schwarzgekleidete Bäuerinnen ihre Wäsche an einer Quelle unter einem von vier mächtigen Balken getragenen Dach wuschen. Das Wasser durchfloss einen langen Holztrog, so dass es stets frisch war, und die Frauen schrubbten ihre Wäsche auf Steinplatten und spülten sie in dem fließenden Wasser.
Ein Bild des Friedens, dachte Rubio. Es erinnerte ihn an seinen Bauernhof, den er zurückgelassen hatte. So ist ’s früher in ganz Spanien gewesen. Keine Bombenanschläge, keine politischen Morde. Werden wir jemals wieder in Frieden leben?
»Buenas dias.«
»Buenas dias.«
»Dürfen wir einen Schluck Wasser haben? Das Wandern macht durstig.«
»Gewiss. Trinkt nur.«
Das Wasser war kalt und erfrischend.
»Gracias. Adios.«
»Adios.«
Rubio Arzano bedauerte, dieses Dorf verlassen zu müssen.
Die beiden Frauen und ihre Begleiter zogen weiter: an Korkeichen und Olivenbäumen vorbei, durch Weinberge und duftende Orangenhaine, vorbei an Obstgärten mit Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäumen sowie an Bauernhöfen, auf denen Hühner gackerten, Schweine grunzten und Ziegen meckerten.
Rubio und Tomas, die vorausgingen, sprachen halblaut miteinander.
Sie reden über mich. Sie glauben, ich wüsste nichts von ihrem Plan. Schwester Teresa schloss zu ihnen auf, um mitzubekommen, was sie sagten.
». eine Belohnung von fünfhunderttausend Pesetas auf unseren Kopf ausgesetzt. Für Jaime würde Oberst Acoca natürlich mehr zahlen. Aber er will nicht seinen Kopf - er will seine Cojones.«
Die beiden Männer lachten.
Schwester Teresas Verdacht wurde bestärkt, je länger sie den beiden zuhörte. Diese Männer sind Mörder, die das Werk des Satans tun; sie sind Sendboten des Teufels, die mich in ewige Verdammnis führen sollen. Aber Gott ist stärker als sie! Er lässt nicht zu, dass sie mich nach Hause verschleppen.