Dann war plötzlich Raoul Giradot mit seinem vertrauten Lächeln neben ihr.
Die Stimme!
Was soll das heißen?
Ich habe Sie gestern singen hören. Herrlich, sage ich Ihnen!
Was kann ich für Sie tun?
Ich möchte bitte drei Meter Musselin.
Gern, Mademoiselle. Wenn Sie bitte mitkommen wollen... Dieses Geschäft gehört meiner Tante, deshalb wollte ich einige Zeit hier arbeiten.
Du könntest bestimmt jeden Mann haben, den du möchtest, Teresa, aber ich würde es mir als Ehre anrechnen, wenn du mich nehmen würdest.
Er sah wirklich blendend aus.
Ich habe noch nie eine Frau wie dich gekannt, mein Liebling.
Raoul nahm sie in die Arme und küsste sie.
Du wirst bestimmt eine wunderhübsche Braut sein.
Aber jetzt bin ich eine Braut Christi. Ich kann nicht zu Raoul zurückkehren.
Lucia beobachtete sie aufmerksam. Schwester Teresa führte Selbstgespräche, aber Lucia verstand nicht, was sie sagte.
Sie dreht allmählich durch, dachte Lucia. Sie macht’s bestimmt nicht mehr lange. Du musst dir das Kruzifix bei nächster Gelegenheit schnappen.
Gegen Abend sahen sie die Stadt Olmedo in der Ferne vor sich liegen.
Rubio blieb stehen. »Dort sind Soldaten stationiert. Wir weichen in die Hügel aus und umgehen die Stadt.«
Sie verließen die Straße und folgten einem durch die Hügel führenden Fußpfad. Die Sonne ging hinter den Bergen unter, und die Abenddämmerung begann herabzusinken.
»Nur noch ein paar Kilometer«, sagte Rubio Arzano aufmunternd. »Dann können wir rasten.«
Sie näherten sich dem Grat eines steilen Hügels, als Tomas Sanjuro plötzlich stehen blieb und warnend die rechte Hand hob. »Vorsicht!« sagte er halblaut.
Rubio folgte ihm bis zu dem Grat, von dem aus sie ins nächste Tal hinab sehen konnten. Dort unten hatten Soldaten ihre Zelte aufgeschlagen.
»Mierda!« flüsterte Rubio. »Das muss ein ganzer Zug sein. Am besten bleiben wir heute Nacht hier oben. Wahrscheinlich ziehen sie morgen früh ab, und wir können weitermarschieren.« Er bemühte sich, sich keine Besorgnis anmerken zu lassen, als er sich jetzt an die beiden Nonnen wandte. »Wir übernachten hier oben, Schwestern. Wir müssen sehr leise sein. Dort unten sind Soldaten, die uns nicht finden dürfen.«
Das war die beste Nachricht, die Lucia sich hätte wünschen können. Wunderbar! dachte sie. Du verschwindest nachts mit dem Kruzifix, und sie dürfen wegen der Soldaten nicht riskieren, dich zu verfolgen.
Für Schwester Teresa hatte diese Mitteilung eine andere Bedeutung. Sie hatte gehört, wie die Männer davon gesprochen hatten, dass ein gewisser Oberst Acoca sie verfolge. Sie haben Oberst Acoca als ihren Feind bezeichnet. Aber diese Männer sind der Feind, deshalb muss Oberst Acoca mein Freund sein. Lieber Gott, ich danke dir, dass du mir Oberst Acoca geschickt hast.
Der große Mann, der sich Rubio nannte, sprach mit ihr.
»Haben Sie verstanden, Schwester? Wir müssen alle sehr, sehr leise sein.«
»Ja, ich verstehe.« Ich verstehe besser, als du denkst. Die beiden konnten nicht ahnen, dass Gott ihr einen Blick in ihre bösen Herzen ermöglicht hatte.
»Ich weiß, wie schwierig das alles für Sie ist«, sagte Tomas Sanjuro freundlich, »aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir bringen Sie sicher in Ihr Kloster.«
Nach Eze, meint er. Oh, wie gerissen er ist! Er spricht mit den Schalmaienklängen des Bösen. Aber Gott ist in mir und führt mich. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Aber sie musste sehr vorsichtig sein.
Die beiden Männer breiteten die Schlafsäcke nebeneinander aus und boten sie den Frauen an.
»Am besten schlaft ihr zuerst.«
Die Frauen krochen in die ungewohnten Schlafsäcke. Die Nacht war unglaublich klar, und am Himmelsgewölbe leuchteten Myriaden von Sternen. Lucia blickte zu ihnen auf und dachte zufrieden: In ein paar Stunden bist du bereits auf dem Weg in die Freiheit. Sobald sie alle schlafen.
Sie gähnte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie müde sie war. Der anstrengende Marsch und die emotionale Anspannung forderten jetzt ihren Tribut. Die Augen wurden ihr schwer. Nur ein bisschen ausruhen, dachte Lucia.
Sie schlief ein.
Schwester Teresa lag hellwach in Lucias Nähe und wehrte sich gegen die Dämonen, die von ihrer Seele Besitz zu ergreifen und sie in die Hölle hinabzuzerren versuchten. Ich muss stark sein. Der Herr stellt mich auf die Probe. Ich bin in die Verbannung geschickt worden, damit ich den Weg zu ihm zurück finden kann. Und diese Männer versuchen, mich daran zu hindern. Das darf ich nicht zulassen.
Um vier Uhr morgens setzte Schwester Teresa sich geräuschlos auf und sah sich um. Tomas Sanjuro schlief ganz in ihrer Nähe auf dem nackten Erdboden. Der große schwarzhaarige Mann namens Rubio hielt am Rand der Lichtung Wache und kehrte ihr dabei den Rücken zu. Als er einmal kurz ins Freie trat, hob seine Silhouette sich gegen den Nachthimmel ab.
Schwester Teresa stand lautlos auf. Sie zögerte, weil ihr das Kruzifix einfiel. Soll ich’s mitnehmen? Aber ich komme ohnehin sehr bald hierher zurück. Ich muss ein Versteck finden, in dem es bis zu meiner Rückkehr sicher aufgehoben ist. Ihr Blick fiel auf die friedlich schlafende Schwester Lucia. ja, bei meiner Schwester im Herrn ist es sicher aufgehoben, überlegte Schwester Teresa.
Sie trat leise an den anderen Schlafsack und schob das Kruzifix hinein. Lucia bewegte sich nicht. Schwester Teresa wandte sich ab, schlich mit angehaltenem Atem davon und verschwand unter den ersten Bäumen. Um das Lager der Soldaten im Tal ungesehen zu erreichen, musste sie einen Umweg machen. Der Hügel war steil und das taunasse Gras rutschig, aber Gott verlieh ihr Flügel, und sie lief, ohne zu stolpern oder zu fallen, bergab - ihrer Erlösung entgegen.
Aus der Dunkelheit vor ihr tauchte plötzlich eine Männergestalt auf.
»Halt, wer da?« rief eine Stimme.
»Schwester Teresa.«
Sie näherte sich dem Wachposten. Der Soldat hielt sein Gewehr auf sie gerichtet.
»Woher kommst du, Alte?« fragte er grob.
Sie erwiderte seinen Blick mit leuchtenden Augen. »Gott schickt mich.«
Der Uniformierte starrte sie an. »Tatsächlich?«
»Ja. Er schickt mich zu Oberst Acoca.«
Der Wachposten schüttelte den Kopf. »Richten Sie ihm lieber aus, dass Sie nicht der Typ des Obersten sind. Adi-os, Senora.«
»Aber begreifen Sie doch! Ich bin Schwester Teresa aus der Zisterzienserinnenabtei. Ich bin von Jaime Miro und seinen Männern verschleppt worden.« Sie beobachtete, wie sein gelangweilter Gesichtsausdruck in Verblüffung umschlug.
»Sie. Sie sind aus dem Kloster?«
»Ja.« »Aus dem Kloster Avila?«
»Ja«, bestätigte Schwester Teresa ungeduldig. Was war nur mit diesem Mann los? Erkannte er denn nicht, wie wichtig es war, sie vor diesen Unholden zu retten?
»Der Oberst ist im Augenblick nicht da, Schwester.«, sagte der Uniformierte zögernd.
Das war ein unerwarteter Schlag.
». aber ich kann Sie zu Oberst Sostelo bringen.«
»Wird der mir helfen können?«
»Oh, ganz bestimmt! Kommen Sie bitte mit.«
Der Posten konnte diesen glücklichen Zufall kaum fassen. Oberst Sostelo hatte seine Soldaten in Zugstärke ausschwärmen und das ganze Land nach den vier Nonnen absuchen lassen - bisher leider erfolglos. Und jetzt war eine der Schwestern hier im Lager aufgekreuzt und hatte sich freiwillig gestellt. Der Oberst würde zufrieden sein. Der Oberst würde sogar sehr zufrieden sein.