Sostelo wusste, dass er Oberst Acoca diesen Misserfolg würde melden müssen. Davor graute ihm schon jetzt.
Der zweite Anruf Tuckers bei Ellen Scott war noch beunruhigender als der erste.
»Ich bin auf einige sehr interessante Tatsachen gestoßen, Mrs. Scott«, begann er vorsichtig.
»Ja?«
»Ich habe hier in einem Zeitungsarchiv nachgeschlagen, um womöglich weitere Informationen über das Mädchen ans Tageslicht zu fördern.«
»Und?« Sie machte sich auf das gefasst, was jetzt kommen musste.
Tucker achtete darauf, dass seine Stimmlage ganz neutral blieb. »Das Mädchen scheint damals etwa zum Zeitpunkt Ihres Flugzeugabsturzes ausgesetzt worden zu sein.«
Schweigen.
»Ich meine das Unglück«, fuhr Alan Tucker fort, »bei dem Ihr Schwager, Ihre Schwägerin und die kleine Patricia umgekommen sind.«
Erpressung. Das war die einzige Erklärung. Er hatte also alles herausbekommen.
»ja, das stimmt«, bestätigte Ellen Scott gelassen. »Das hätte ich erwähnen sollen. Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie wieder zurück sind. Sind Sie bei der Suche nach ihr weitergekommen?«
»Nein, aber sie kann sich nicht lange versteckt halten. Das ganze Land sucht nach ihr.«
»Melden Sie sich wieder, sobald sie gefunden ist.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Alan Tucker saß auf seinem Hotelbett und starrte den Hörer in seiner Hand an. Eine verdammt coole Lady, dachte er anerkennend. Was sie wohl von mir als Partner halten wird?
Ihn nach Spanien zu schicken ist ein Fehler gewesen, überlegte Ellen Scott sich, jetzt muss ich seinem Erpressungsversuch einen Riegel vorschieben. Und was sollte sie wegen Patricia unternehmen? Eine Nonne! Aber ich will kein Urteil fällen, bevor ich mit ihr gesprochen habe.
Ihre Sekretärin meldete sich über die Gegensprechanlage. »Mrs. Scott, die Herren warten im Konferenzzimmer.« »Gut, ich komme.«
Lucia Carmine und Rubio Arzano flüchteten weiter durch den Wald. Sie stolperten und rutschten aus, verfingen sich in Büschen und Zweigen und wurden von Insekten zerstochen - aber mit jedem Schritt vergrößerte sich der Abstand zu ihren Verfolgern.
»Hier können wir bleiben«, sagte Rubio schließlich. »Hier findet uns niemand.«
Sie befanden sich in dichtem Bergwald.
Lucia sank nach Atem ringend zu Boden. Vor ihrem inneren Auge standen die Schreckensbilder, die sie zuvor gesehen hatte. Sie glaubte, die Schüsse zu hören, die Tomas niedergestreckt hatten. Diese Schweine hätten uns alle abgeknallt, dachte Lucia. Dass sie noch lebte, verdankte sie einzig und allein dem Mann, der jetzt neben ihr saß.
Lucia beobachtete, wie Rubio aufstand und ihre nähere Umgebung erkundete.
»Hier können wir heute Nacht bleiben, Schwester.«
»Einverstanden.« Sie konnte es kaum erwarten weiterzukommen, aber sie wusste auch, dass sie Erholung brauchte.
»Bei Tagesanbruch marschieren wir weiter«, versicherte Rubio Arzano ihr, als könne er ihre Gedanken lesen. Als Lucias leerer Magen vernehmlich knurrte, fügte er hinzu: »Sie müssen hungrig sein. Ich ziehe los und besorge uns irgendwas Essbares. Haben Sie auch keine Angst, wenn ich Sie allein lasse?«
»Nein, nein, mir fehlt hier nichts.«
Der große Mann kauerte neben ihr nieder.
»Versuchen Sie bitte, keine Angst zu haben. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für Sie sein muss, nach so vielen Jahren im Kloster wieder draußen in der Welt zu sein. Bestimmt kommt Ihnen alles ganz fremd vor.«
Lucia sah zu ihm auf. »Ich werde versuchen, mich daran zu gewöhnen«, sagte sie tonlos.
»Sie sind sehr tapfer, Schwester.« Rubio stand auf. »Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
Sie beobachtete, wie Rubio unter den Bäumen verschwand. Nun wurde es Zeit für eine Entscheidung, bei der Lucia die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten treffen musste: Sie konnte sich jetzt absetzen und versuchen, die nächste Großstadt zu erreichen, um das goldene Kruzifix dort gegen einen gefälschten Pass und genügend Geld für ihre Reise in die Schweiz einzutauschen - oder sie konnte mit Arzano zusammenbleiben, bis von den Soldaten keine Gefahr mehr drohte. Das ist vermutlich sicherer, überlegte Lucia.
Lucia hörte ein Knacken, als sei jemand auf einen trockenen Ast getreten, und warf sich herum. Sie atmete auf, als sie Rubio Arzano lächelnd auf sich zukommen sah. Seine Baskenmütze, die er in beiden Händen hielt, quoll von Äpfeln, Weintrauben und Tomaten über.
Rubio ließ sich neben ihr nieder. »Leider gibt’s nur Obst, Schwester. Vom nächsten Bauernhof hätte ich ein Huhn mitbringen können, aber wir dürfen hier kein Feuer machen. Das könnte uns verraten.«
Lucia starrte den Inhalt seiner Mütze an. »Das sieht großartig aus. Mir knurrt nämlich schon der Magen.«
Sie hatten gegessen, und Rubio Arzano versuchte, eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber Lucia, die ihren eigenen Gedanken nachhing, hörte kaum zu.
»Sie sind also seit zehn Jahren im Kloster, Schwester?«
Lucia schrak aus ihren Gedanken auf. »Was?«
»Sie sind seit zehn Jahren im Kloster?«
»Oh. Ja, das stimmt.«
Er schüttelte den Kopf. »Dann wissen Sie also gar nicht, was in der Zwischenzeit alles passiert ist?«
»Äh. nein.«
»Im vergangenen Jahrzehnt hat die Welt sich sehr verändert, Schwester.«
»Wirklich?«
»Si«, antwortete Rubio ernsthaft. »Franco ist gestorben.«
»Nein!«
»Doch, letztes Jahr.«
Und hat Juan Carlos zu seinem Nachfolger ernannt.
»Sie werden’s vielleicht nicht glauben, aber ein Mensch ist auf dem Mond gewesen. Das ist die reine Wahrheit!«
»Tatsächlich?« In Wirklichkeit sind’s sogar zwei gewesen, dachte Lucia. Wie haben sie gleich wieder geheißen? Neu Armstrong und Buzz Irgendwas.
»Allerdings! Zwei Amerikaner haben einen Spaziergang auf dem Mond gemacht. Und es gibt jetzt ein Verkehrsflugzeug, das schneller als der Schall ist.«
»Unglaublich.« Ich kann’s kaum erwarten, mit der Concorde zu fliegen, dachte Lucia.
Rubio hatte kindliche Freude daran, sie über alles zu informieren, was sie seiner Meinung nach im Kloster nicht mitbekommen haben konnte.
»In Portugal hat’s eine Revolution gegeben, und der amerikanische Präsident Nixon musste wegen seiner Verwicklung in einen politischen Skandal zurücktreten.«
Rubio ist wirklich süß, stellte Lucia fest.
Als er seine Zigaretten aus der Jackentasche holte, sah sie, dass er die schweren schwarzen Ducados rauchte. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich rauche, Schwester?«
»Nein, nein«, versicherte Lucia ihm. »Rauchen Sie nur!«
Sie beobachtete, wie er sich eine anzündete, und sobald sie den aromatischen Rauch einatmete, wurde sie von verzweifelter Gier nach einer Zigarette erfasst.
»Kann ich auch mal eine versuchen?«
Rubio starrte sie verblüfft an. »Sie wollen eine Zigarette versuchen?«
»Nur um zu sehen, wie sie schmeckt«, erklärte Lucia ihm rasch.
»Oh. Ja, natürlich.«
Er hielt ihr die Packung hin. Lucia nahm eine Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und ließ sich von Rubio Feuer geben. Sie inhalierte tief und fühlte sich wunderbar, als der Zigarettenrauch ihre Lunge füllte.
Rubio beobachtete sie verwirrt.
Lucia hustete. »So schmeckt also eine Zigarette.«
»Schmeckt sie Ihnen?«
»Nicht besonders, aber.«
Sie nahm einen weiteren tiefen, befriedigenden Zug. Großer Gott, wie sehr ihr das gefehlt hatte! Aber sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste, um Rubio nicht misstrauisch zu machen. Deshalb drückte sie jetzt die Zigarette aus, die sie scheinbar unbeholfen zwischen den Fingern gehalten hatte.