Obwohl Lucia nur wenige Monate im Kloster gewesen war, hatte Rubio Arzano recht: es kam ihr seltsam vor, wieder außerhalb der Kostermauern zu sein. Sie fragte sich, wie Megan und Graciela zurechtkamen. Und was war aus Schwester Teresa geworden? War sie etwa den Soldaten in die Hände gefallen?
Lucias Augen begannen zu brennen. Sie hatte eine lange, aufregende Nacht hinter sich. »Am liebsten würde ich jetzt ein Nickerchen machen.«
»Sie können unbesorgt schlafen, Schwester. Ich halte inzwischen Wache.«
»Danke«, sagte sie lächelnd. Sekunden später war sie bereits eingeschlafen.
Eine Frau wie sie habe ich noch nie kennen gelernt, dachte Rubio Arzano, während er die Schlafende betrachtete. Sie ist so gläubig, dass sie ihr Leben Gott geweiht hat, aber zugleich hat sie etwas sehr Erdhaftes an sich. Und heute Nacht ist sie tapfer wie ein Mann gewesen. Du bist eine ganz besondere Frau, kleine Schwester Jesu.
20
Oberst Fal Sostelo war bei der zehnten Zigarette. Es lässt sich nicht länger aufschieben, überlegte er sich. Schlechte Nachrichten wird man am besten schnell los.
Um sich zu beruhigen, holte er mehrmals tief Luft und wählte dann eine Telefonnummer. Als er Ramon Acoca am Apparat hatte, sagte er: »Oberst, wir haben letzte Nacht ein Terroristenlager angegriffen, in dem Jaime Miro sich aufhalten sollte, und ich dachte, Sie sollten davon erfahren.«
Am anderen Ende herrschte gefährliches Schweigen.
»Haben Sie ihn gefasst?«
»Nein.«
»Sie haben sich zu dieser Aktion entschlossen, ohne mich zu konsultieren?«
»Die Zeit ist zu knapp gewesen, um.«
»Aber sie hat ausgereicht, um Miro entwischen zu las-senk unterbrach Acoca ihn wütend. »Was hat Sie zu diesem großartig organisierten Unternehmen veranlasst?«
Oberst Sostelo schluckte trocken. »Wir haben eine der Nonnen aus dem Kloster Avila gefangen genommen. Sie hat uns zu Miro und seinen Leuten geführt. Bei unserem Überfall haben wir einen von ihnen erschossen.«
»Aber alle übrigen sind entkommen?«
»Ja, Oberst.«
»Wo ist diese Nonne jetzt? Oder haben Sie auch ihr die Flucht ermöglicht?« Sein Tonfall war beißend scharf.
»Nein, Oberst«, antwortete Sostelo rasch. »Sie ist hier in unserem Lager. Wir haben sie verhört, aber.«
»Lassen Sie das! Ich vernehme sie selbst. Ich bin in einer Stunde bei Ihnen. Vielleicht gelingt’s Ihnen, sie bis zu meinem Eintreffen festzuhalten.« Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Genau eine Stunde später traf Oberst Ramon Acoca mit einem Dutzend seiner GOE-Leute in dem Militärlager ein, in dem Schwester Teresa festgehalten wurde.
»Bringen Sie die Nonne zu mir«, befahl Acoca.
Schwester Teresa wurde ins Stabszelt gebracht, in dem der Oberst auf sie wartete. Als sie hereinkam, stand er höflich auf und lächelte.
»Ich bin Oberst Acoca.«
Endlich! »Ich habe gewusst, dass Sie kommen würden. Gott hat’s mir gesagt.«
Er nickte freundlich. »Tatsächlich? Ausgezeichnet! Nehmen Sie bitte Platz, Schwester.«
Schwester Teresa war jedoch zu nervös, um sitzen zu können. »Sie müssen mir helfen.«
»Wir werden uns gegenseitig helfen«, versicherte Oberst Acoca ihr. »Sie sind aus dem Kloster der Zister-zienserinnen in Avila geflüchtet, stimmt’s?«
»Ja. Der Überfall ist schrecklich gewesen. All diese Männer! Sie haben gottlose Dinge getan und.«
Und sind dumm genug gewesen, dich und die anderen entkommen zu lassen. »Wie sind Sie hierher gekommen, Schwester?«
»Gott hat mich hergeführt. Er stellt mich auf die Probe, wie er einst.«
»Sind Sie außer von Gott auch von einigen Männern hergeführt worden, Schwester?« fragte der Oberst geduldig.
»Ja. Sie haben mich verschleppt. Ich habe vor ihnen fliehen müssen.«
»Und Sie haben Oberst Sostelo gesagt, wo diese Männer zu finden waren?« »Ja, die Bösen. Raoul steckt hinter allem, wissen Sie. Er hat mir in einem Brief geschrieben, dass.«
»Schwester, der Mann, nach dem wir vor allem fahnden, ist Jaime Miro. Haben Sie ihn gesehen?«
Sie fuhr zusammen. »O ja! Er.«
Der Oberst beugte sich nach vorn. »Ausgezeichnet! Jetzt müssen Sie mir sagen, wo er zu finden ist.«
»Er und die anderen sind nach Eze unterwegs.«
Acoca runzelte die Stirn. »Nach Eze? Nach Frankreich?«
Ihr Tonfall war zu einem wilden Gebrabbel geworden. »Ja, denn Monique hat Raoul verlassen, und er hat diese Männer losgeschickt, um mich wegen des Babys entführen zu lassen, deshalb.«
Acoca bemühte sich, seine wachsende Ungeduld zu verbergen. »Miro und seine Leute sind nach Norden unterwegs. Eze liegt östlich von hier.«
».dürfen Sie nicht zulassen, dass sie mich zu Raoul zurückbringen. Ich will ihn niemals wieder sehen! Das verstehen Sie bestimmt. Ich könnte es nicht ertragen, ihn wiederzusehen und.«
»Dieser Raoul ist mir scheißegal!« unterbrach der Oberst sie grob. »Ich will wissen, wo Jaime Miro zu finden ist.«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt! Er wartet in Eze auf mich. Er will, dass ich.«
»Sie lügen, Schwester. Ich glaube, dass Sie Miro zu decken versuchen. Ich will Ihnen nichts tun, deshalb frage ich Sie nochmals: Wo ist Jaime Miro?«
Schwester Teresa starrte Acoca hilflos an. »Das weiß ich nicht«, flüsterte sie. Sie sah sich wild um. »Ich weiß es wirklich nicht!«
»Vorhin haben Sie noch behauptet, er sei in Eze.« Seine Stimme klang wie ein Peitschenknall.
»Ja. Das hat Gott mir gesagt.«
Oberst Acoca hatte genug. Diese Frau war geistig verwirrt oder eine ausgezeichnete Schauspielerin. Jedenfalls hatte er ihr Geschwätz von Gott gründlich satt.
Er wandte sich an Leutnant Patricio Arrieta. »Dem Gedächtnis der Schwester muss nachgeholfen werden. Nehmen Sie sie ins Sanitätszelt mit. Vielleicht können Sie und Ihre Männer ihr helfen, sich daran zu erinnern, wo Jaime Miro ist.«
»Wird gemacht, Oberst.«
Arrieta und seine Leute hatten zu der Abteilung gehört, die das Kloster Avila überfallen hatte. Sie fühlten sich für die Flucht der vier Nonnen verantwortlich. Aber jetzt können wir diese Scharte auswetzen, dachte Arrieta.
Er wandte sich an Teresa. »Kommen Sie bitte mit, Schwester.«
»Gern.« Herr Jesus, ich danke dir! Sie brabbelte weiter: »Bringen Sie mich jetzt fort? Sie lassen nicht zu, dass ich nach Eze verschleppt werde, nicht wahr?«
»Nein, nein«, versicherte Arrieta ihr. »Sie müssen nicht nach Eze.«
Der Oberst hat recht, dachte er. Sie versucht, ihr Spielchen mit uns zu treiben. Aber wir werden ihr ein paar neue zeigen. Ob sie sich kreischend wehren oder einfach stilliegen wird?
»Schwester, ich gebe Ihnen eine letzte Chance«, sagte Arrieta, als sie das Sanitätszelt erreichten. »Wo ist Jaime Miro?«
Haben sie mich das nicht schon einmal gefragt? Oder ist das jemand anders gewesen? Hier oder... alles ist so verwirrend! »Er hat mich in Raouls Auftrag verschleppt, weil Monique ihn verlassen hat, so dass er mich.« »Bueno, wenn Sie nicht anders wollen«, unterbrach Arrieta sie. »Vielleicht können wir Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.«
»Ja, bitte. Alles ist so verwirrend.«
Ein halbes Dutzend von Acocas Männern sowie mehrere Soldaten Sostelos waren nach ihnen ins Zelt gekommen.
Schwester Teresa sah auf. Sie blinzelte verwirrt. »Bringen diese Männer mich jetzt ins Kloster zurück?«