»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.«
Die Bösen waren die Feinde ihres Vaters und ihrer Brüder. Und sie hatte sich an ihnen gerächt.
».denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.«
Wo ist Gott gewesen, als du trostbedürftig gewesen bist? fragte Lucia sich.
»Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.«
Lucia sprach jetzt langsamer, aber noch immer sehr leise. Was ist aus dem kleinen Mädchen im weißen Kommunionkleid geworden? überlegte sie. Deine Zukunft hat so glänzend ausgesehen. Aber irgendwie ist alles schief gegangen... Alles! Du hast deinen Vater, deine Brüder und dich selbst verloren.
Im Kloster hatte sie nicht an Gott gedacht. Aber hier in Gottes freier Natur, in Gesellschaft dieses einfältigen Bauern.
Würden Sie ein Gebet mit mir sprechen?
»Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang«, fuhr Lucia fort, »und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.«
Rubio beobachtete sie sichtlich bewegt.
»Danke, Schwester.«
Lucia, die im Augenblick nicht sprechen konnte, nickte wortlos. Was ist in dich gefahren? fragte sie sich.
»Sind Sie bereit, Schwester?«
Sie erwiderte Rubio Arzanos Blick. »Ja«, antwortete sie, »ich bin bereit.«
Wenige Minuten später waren sie wieder unterwegs.
Plötzlich einsetzender Regen zwang sie dazu, in einer verlassenen Hütte Schutz zu suchen. Der Regen prasselte wie Maschinengewehrfeuer aufs Blechdach und gegen die Rückwand der baufälligen Hütte.
»Glauben Sie, dass dieser Sturm jemals wieder aufhört?«
Rubio lächelte. »Das ist kein richtiger Sturm, Schwester. Wir Basken nennen ihn Sirimiri. Er hört so schnell auf, wie er angefangen hat. Der Boden ist ausgetrocknet. Er braucht diesen Regen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich bin nämlich Bauer.«
Das merkt man, dachte Lucia.
»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Schwester, aber wir haben viel gemeinsam.«
Darauf kannst du lange warten! sagte Lucia sich mit einem Blick auf den unbeholfenen Bauernlümmel. »Wirklich?«
»Ja. Ich glaube, dass das Leben auf einem Bauernhof große Ähnlichkeit mit dem in einem Kloster hat.«
Sie begriff nicht, an welche Gemeinsamkeiten er dachte. »Das verstehe ich nicht.«
»Nun, Schwester, im Kloster denkt man viel über Gott und seine Wunder nach, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Ein Bauernhof ist in gewisser Beziehung eine Verkörperung Gottes. Man ist von der Schöpfung umgeben -von all den Dingen, die aus Gottes Erde wachsen, ob’s nun Weizen oder Oliven oder Trauben sind -, und alles kommt von Gott, nicht wahr? Das alles sind Wunder, die man tagtäglich beobachten kann, und weil man mithilft, sie gedeihen zu lassen, ist man selbst Bestandteil dieser Wunder.«
Lucia musste über die Begeisterung lächeln, die aus seiner Stimme sprach.
Plötzlich hörte der Regen wieder auf.
»Wir können weiterziehen, Schwester.«
»Bald kommen wir an den Rio Duero«, erklärte Rubio seiner Begleiterin. »Vor uns liegen die Penafiel-Wasserfälle. Über Aranda de Duero erreichen wir dann Logrono, wo wir zu den anderen stoßen.«
Dort triffst du dich mit ihnen, dachte Lucia. Und ich wünsche dir alles Gute! Ich bin um diese Zeit schon in die Schweiz unterwegs, mein Freund.
Sie hörten die Wasserfälle schon eine halbe Stunde, bevor sie sie erreichten. Die schäumend in den reißenden Fluss hinab stürzenden Penafiel-Fälle boten ein atemberaubend schönes Bild. Ihr Tosen war beinahe ohrenbetäubend.
»Ich möchte baden«, sagte Lucia plötzlich. Ihr letztes Bad schien Jahre zurückzuliegen.
Rubio Arzano starrte sie an. »Hier?«
Nein, in Rom, du Idiot! »Ja.«
»Aber seien Sie vorsichtig! Der Fluss führt nach dem Regen Hochwasser.«
»Keine Angst, ich passe schon auf.« Sie blieb geduldig wartend stehen.
»Oh. Ich gehe ein Stück weiter, während Sie baden.«
»Bleiben Sie lieber in der Nähe«, bat Lucia ihn rasch. Wahrscheinlich gab es in den Wäldern wilde Tiere.
Als Lucia sich auszuziehen begann, ging Rubio hastig ein paar Schritte weiter und kehrte ihr den Rücken zu.
»Gehen Sie nicht zu weit hinein, Schwester!« rief er warnend. »Der Fluss ist tückisch!«
Lucia legte das goldene Kruzifix in seiner Leinenumhüllung so am Ufer ab, dass sie es im Auge behalten konnte. Die kühle Morgenluft auf ihrer bloßen Haut war wunderbar erfrischend. Als sie ganz nackt war, stieg sie ins Wasser. Es war kalt und belebend. Sie drehte sich um und stellte fest, dass Rubio ihr standhaft weiter den Rücken zukehrte. Darüber musste sie lächeln. Alle anderen Männer, die sie kannte, hätten sich diese Augenweide nicht entgehen lassen.
Lucia watete tiefer ins Wasser, wich den überall im Flussbett liegenden Felsen aus, schöpfte mit beiden Händen Wasser über ihren Oberkörper und spürte, wie die Strömung an ihren Beinen riss.
Wenige Meter von ihr entfernt trieb ein kleiner Baum den Fluss hinab. Als Lucia sich zur Seite drehte, um ihm nachzusehen, verlor sie plötzlich das Gleichgewicht und rutschte kreischend aus. Sie klatschte ins aufspritzende Wasser und schlug sich den Kopf an einem Felsbrocken an.
Rubio warf sich herum und sah zu seinem Entsetzen, wie Lucia von den hochgehenden Wellen des schäumenden Flusses mitgerissen wurde.
23
Sergeant Florian Santiago auf der Polizeistation Sala-manca hatte zittrige Hände, als er den Telefonhörer auflegte.
Jaime Miro und drei seiner Leute sind bei mir! Hättest du nicht Lust, sie zu schnappen?
Staatliche Stellen hatten eine hohe Belohnung für die Ergreifung Jaime Miros ausgesetzt - und nun war der meistgesuchte baskische Terrorist ihm in die Hände gefallen! Das Kopfgeld würde sein ganzes Leben verändern. Damit konnte er es sich leisten, seine Kinder in eine bessere Schule zu schicken, seiner Frau eine Waschmaschine zu kaufen und seiner Geliebten Schmuck zu schenken. Natürlich würde er seinem Onkel etwas von der Belohnung abgeben müssen.
Er kriegt zwanzig Prozent, dachte Santiago. Oder vielleicht tun’s auch zehn.
Er kannte Jaime Miros Ruf nur allzu gut und hatte nicht die Absicht, sein Leben zu riskieren, indem er versuchte, den Terroristen selbst festzunehmen.
Wenn ich nur die Belohnung kriege, überlasse ich den gefährlichen Teil gern anderen.
Er saß an seinem Schreibtisch und überlegte, was in dieser Situation die beste Lösung wäre. Dabei fiel ihm sofort der Name Oberst Acocas ein.
Wie jedermann wusste, bekriegten der Oberst und der Terrorist sich heftig. Außerdem stand die gesamte GOE unter Acocas Befehl. Ja, das war die einzig richtige Lösung.
Santiago griff nach dem Telefonhörer und war wenige Minuten später direkt mit Acoca verbunden.
»Oberst, hier ist Sergeant Florian Santiago vom Polizeirevier Salamanca«, meldete er sich. »Ich habe Jaime Miro aufgespürt.«
Oberst Ramon Acoca hatte Mühe, sich keine Erregung anmerken zu lassen. »Wissen Sie das ganz bestimmt?«
»Ja, Oberst. Er übernachtet im Parador Nacional Rai-mundo de Borgon etwas außerhalb der Stadt. Mein Onkel, der dort Geschäftsführer ist, hat mich selbst angerufen. Miro wird von einem Mann und zwei Frauen begleitet.«
»Ihr Onkel hat Miro einwandfrei identifiziert?«
»Ja, Oberst. Er und die anderen schlafen in den beiden rückwärtigen Zimmern im ersten Stock des Paradors.«