»Die nächste Stadt ist Aranda de Duero«, erklärte Ru-bio ihr, nachdem sie gegessen hatten. »Eine ziemlich große Stadt. Am besten umgehen wir sie, um der GOE und dem Militär auszuweichen.«
Damit war der Augenblick der Wahrheit gekommen, in dem Lucia ihn verlassen musste. Sie hatte darauf gewartet, dass sie in die Nähe einer größeren Stadt kommen würden. Rubio Arzano und sein Bauernhof waren ein Traum; ihre Flucht in die Schweiz war die Realität. Lucia wusste, wie sehr sie ihn verletzen würde, und konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, als sie jetzt sagte: »Rubio, ich. ich würde gern mit dir in die Stadt gehen.«
Er runzelte die Stirn. »Das wäre gefährlich, Querida. Die Soldaten.«
»Dort fahnden sie bestimmt nicht nach uns.« Sie überlegte rasch. »Außerdem brauche ich neue Sachen. Ich kann nicht ewig so rumlaufen.«
Der Gedanke, sich freiwillig in eine Stadt zu wagen, war Rubio unheimlich, aber er sagte nur: »Gut, wenn du willst.«
In der Ferne ragte Aranda de Duero mit seinen Wällen, Türmen und Gebäuden wie ein von Menschenhand aus Fels gehauener Berg vor ihnen auf.
Rubio nahm einen weiteren Anlauf. »Lucia.. musst du unbedingt in die Stadt?«
»Ja, unbedingt.«
Die beiden überquerten den Fluss auf der zur Hauptstraße, der Avenida Castilla, führenden langen Brücke und gingen in Richtung Stadtmitte weiter. Sie kamen an einer Zuckerraffinerie, an Kirchen und Geflügelläden mit ihren typischen Gerüchen vorbei. Wohn- und Geschäftshäuser säumten die Avenida Castilla. Rubio und Lucia schlenderten gemächlich weiter, um nur ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich entdeckte Lucia zu ihrer Erleichterung ein Schild, nach dem sie Ausschau gehalten hatte: Casa de Empenos - ein Leihhaus. Aber sie ging schweigend daran vorbei.
Sie erreichten den Stadtplatz mit seinen Bars, Geschäften und Lebensmittelläden und kamen an der Taverna Cueva mit ihrer langen Theke und den Holztischen vorbei. Im Lokal stand eine Musikbox, und von den eichenen Deckenbalken hingen Schinken und Knoblauchzöpfe herab.
Lucia sah ihre Chance. »Ich habe Durst, Rubio«, behauptete sie. »Können wir dort reingehen?«
»Natürlich.«
Rubio nahm Lucias Arm und führte sie in das Lokal.
An der Theke standen sieben oder acht Männer. Rubio und Lucia setzten sich an einen Ecktisch.
»Was möchtest du trinken, Querida?«
»Bestellst du mir bitte ein Glas Rotwein? Ich bin gleich wieder da. Ich muss nur rasch etwas erledigen.«
Sie stand auf und verließ das Lokal, ohne sich um Ru-bio zu kümmern, der ihr verblüfft nachstarrte.
Lucia, die ihr in Leinen gewickeltes kostbares Beutestück mit beiden Händen an sich gepresst hielt, hastete zur Casa de Empenos zurück. Neben einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite sah sie ein schwarzes Schild mit der weißen Aufschrift Policia. Während Lucia es anstarrte, schlug ihr das Herz bis zum Hals; dann wandte sie sich ruckartig ab und betrat das Pfandhaus.
Im Halbdunkel hinter der Theke stand ein hagerer Alter mit übergroßem Kopf.
»Buenos dias, Senorita.«
»Buenos dias, Senor. Ich habe etwas, das ich beleihen oder verkaufen möchte.« Sie war so nervös, dass ihre Knie zitterten.
»Ja?«
Sie wickelte das goldene Kruzifix aus und hielt es dem Alten hin. »Würden Sie. hätten Sie Interesse daran, dieses Stück zu kaufen?«
Der Pfandleiher griff danach, und Lucia beobachtete, wie seine Augen aufleuchteten.
»Darf ich fragen, woher Sie es haben?«
»Ein kürzlich verstorbener Onkel hat es mir vermacht.« Ihre Kehle war so ausgedörrt, dass sie kaum sprechen konnte.
Der Alte drehte das Kruzifix in den Händen und begutachtete es von allen Seiten. »Wie viel möchten Sie dafür haben?«
Ihr Traum begann in Erfüllung zu gehen. »Zweihundertfünfzigtausend Peseten.«
Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Tut mir leid, es ist bestenfalls hunderttausend wert.«
»Eher verkaufe ich meinen Körper.«
»Vielleicht könnte ich Ihnen hundertfünfzigtausend geben.«
»Lieber schmelze ich’s ein und lasse das Gold in den Rinnstein laufen!«
»Zweihunderttausend Peseten. Das ist mein letztes Wort.«
Lucia nahm ihm das goldene Kruzifix aus der Hand. »Das grenzt an Straßenraub, aber Sie sollen es dafür haben.«
Der Pfandleiher konnte sein Entzücken nur mühsam verhehlen. »Bueno, Senorita.« Er griff nach dem Kruzifix.
Lucia zog es zurück. »Sie kriegen es - unter einer Bedingung.«
»Welche Bedingung wäre das, Senorita?«
»Mein Reisepass ist mir gestohlen worden. Ich brauche einen neuen, um zu meiner verwitweten Tante reisen zu können.«
Der Alte musterte sie prüfend; dann nickte er langsam. »Ja, ich verstehe.«
»Besorgen Sie mir einen Pass, dann können Sie das Kruzifix für zweihunderttausend haben.«
Der Pfandleiher seufzte. »Pässe sind schwer zu beschaffen, Senorita. Die Behörden kontrollieren sehr streng.«
Lucia wickelte das Kruzifix schweigend wieder ein.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen da helfen soll.«
»Trotzdem vielen Dank, Senior.« Sie ging zur Tür.
Er wartete, bis ihre Hand auf der Türklinke lag, bevor er »Momentito!« sagte.
Lucia blieb stehen.
»Mir ist eben etwas eingefallen. Ich habe einen Verwandten, der gelegentlich in solch schwierigen Fällen helfen kann. Er ist ein entfernter Verwandter, müssen Sie wissen.«
»Ja, ich verstehe.«
»Ich könnte mit ihm reden. Wann brauchen Sie den Pass?«
»Noch heute.«
Der übergroße Kopf nickte langsam. »Und wenn ich Ihnen einen beschaffe, sind wir handelseinig?«
»Sobald ich den Reisepass habe.«
»Einverstanden. Kommen Sie nach acht Uhr abends hierher - dann ist mein Verwandter auch da. Er macht ein Foto von Ihnen und fügt es in den Pass ein.«
Lucia schlug das Herz bis zum Hals. »Danke, Senor.«
»Möchten Sie, dass ich das Kruzifix sicher für Sie aufbewahre?«
»Bei mir ist’s sicher genug.«
»Gut, dann bis acht Uhr. Hasta luego.«
Sie verließ das Pfandhaus. Auf der Straße machte sie einen weiten Bogen um die Polizeistation und ging zu der Taverne zurück, in der Rubio auf sie wartete. Ihr Schritt wurde langsamer. Sie hatte es endlich geschafft! Das Geld für das Kruzifix würde ihr den Weg in die Schweiz und in die Freiheit öffnen. Sie hätte jubeln sollen, aber stattdessen fühlte sie sich eigenartig deprimiert.
Was ist los mit dir? Endlich bist du nach Südamerika unterwegs. Rubio kommt bald darüber hinweg, dass du ihn verlassen hast, und tröstet sich mit einer anderen.
Sie erinnerte sich an den Blick, mit dem er gesagt hatte: Ich möchte dich heiraten. Das habe ich mein Leben lang noch zu keiner anderen Frau gesagt.
Der Teufel soll den Kerl holen! dachte Lucia. Aber was geht er dich schließlich an?
Bevor sie die Taverne betrat, in der Rubio auf sie wartete, blieb sie stehen, holte tief Luft und setzte ein künstliches Lächeln auf.
25
Die Berichterstattung der Nachrichtenmedien überschlug sich fast. Immer neue Schlagzeilen jagten einander. Eine Sensation folgte der anderen: der Überfall auf das Kloster Avila; die Massenverhaftung von Nonnen wegen Begünstigung von Terroristen; die Flucht der vier Nonnen; die Ermordung eines halben Dutzends Soldaten durch eine dieser Nonnen, die dabei selbst den Tod gefunden hatte. Bei den Nachrichtenagenturen herrschte Hochbetrieb.