Nachdem sie gegessen hatten, zahlte Ricardo und nickte seiner Begleiterin zu. Als sie das Lokal verließen, fiel ihm wie schon unterwegs auf, dass Schwester Graciela leicht hinkte. Ich muss irgendein Transportmittel finden, überlegte er sich. Wir haben’s noch weit.
Sie durchquerten Segovia und stießen auf dem Manzanares el Real am Stadtrand auf eine Zigeunerkarawane. Die Kolonne bestand aus vier von Pferden gezogenen farbenprächtigen Planwagen. Hinten auf den Wagen saßen die Frauen und Kinder - alle in Zigeunertracht.
»Warten Sie hier, Schwester«, forderte Ricardo sie auf. »Ich will fragen, ob sie uns mitnehmen.«
Er sprach den Kutscher des ersten Wagens an, einen stämmigen Mann mit Zigeunerkopftuch und goldenen Ohrringen.
»Buenos tardes, Senor. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meine Verlobte und mich ein Stück weit mitnehmen könnten.«
Der Zigeuner sah zu Graciela hinüber. »Das lässt sich machen. Wohin wollt ihr denn?«
»Zur Sierra de Credos.«
»Ich kann euch bis Cerezo mitnehmen.«
»Damit wäre uns schon viel geholfen. Vielen Dank.«
Er schüttelte dem Zigeuner die Hand und steckte ihm dabei ein Trinkgeld zu.
»Steigt auf den letzten Wagen.«
»Gracias, Senor.«
Ricardo ging zu der geduldig wartenden Graciela zurück. »Die Zigeuner nehmen uns bis Cerezo de Abajo mit«, erklärte er ihr. »Wir sollen auf den hintersten Wagen steigen.«
Einen Augenblick lang war er der Überzeugung, sie werde ablehnen. Sie zögerte, aber dann ging sie doch auf das Fuhrwerk zu.
Auf dem Planwagen saß bereits ein halbes Dutzend Frauen und Kinder, die zusammenrückten, um Platz für die beiden zu machen. Ricardo wollte Graciela beim Aufsteigen helfen, aber als er ihren Arm berührte, stieß sie ihn überraschend energisch zurück. Gut, dann eben nicht, du blöde Kuh! Als Graciela sich hochzog, hatte er ihre nackten Beine vor sich und dachte unwillkürlich: Sie hat die schönsten Beine, die ich je gesehen habe.
Sie machten es sich für die lange Fahrt auf dem harten Holzboden des Planwagens so bequem wie möglich. Graciela saß in einer Ecke, hielt die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als bete sie. Ricardo konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Mit fortschreitender Tageszeit wurde die Sonne zu einem gleißenden, sengenden Feuerball, der die Erde verbrannte, und der Himmel war wolkenlos dunkelblau. Während das Fuhrwerk über die Hochebene rollte, kreisten von Zeit zu Zeit riesige Raubvögel über ihnen. Buitre leonado, dachte Ricardo. Der löwenfarbene Weißkopfgeier.
Am späten Nachmittag hielt die Zigeunerkarawane an. Ihr Führer kam nach hinten zum letzten Wagen.
»Weiter können wir euch nicht mitnehmen. Wir sind nach Vinuelas unterwegs.«
Das wäre die falsche Richtung. »Damit ist uns schon viel geholfen«, versicherte Ricardo ihm. »Nochmals vielen Dank.«
Er wollte Graciela die Hand reichen, um ihr beim Absteigen zu helfen, sie zog sie jedoch rasch zurück.
Ricardo wandte sich erneut an den Zigeuner. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meiner Verlobten und mir noch etwas Essen verkaufen würden.«
Der Stammesälteste gab einer der Frauen kurze Anweisungen in einer Ricardo unverständlichen Sprache. Kurze Zeit später reichte sie zwei Plastiktüten mit Essen vom Wagen.
»Muchos gracias.« Ricardo holte einige Banknoten aus der Hosentasche.
Der Stammesälteste hob abwehrend die Hand. »Sie und die Schwester haben das Essen bereits bezahlt.«
Sie und die Schwester. Er wusste also Bescheid. Trotzdem fühlte Ricardo sich nicht in Gefahr. Die Zigeuner wurden vom Staat ebenso unterdrückt wie die Basken und Katalanen.
»Vaya con dios.«
Ricardo sah der Karawane nach, bis sie hinter einer Wegbiegung außer Sicht kam. Dann drehte er sich nach Graciela um. Sie beobachtete ihn schweigend, teilnahmslos.
»Lange brauchen Sie’s nicht mehr mit mir auszuhalten«, versicherte Ricardo ihr. »In zwei Tagen sind wir in Logrono. Dort treffen Sie Ihre Mitschwestern wieder und sind dann mit ihnen unterwegs nach Mendavia.«
Keine Reaktion. Er hätte ebenso gut gegen eine Wand anreden können. Ich rede gegen eine Wand an.
Sie waren in einem idyllischen Tal mit Obstgärten abgesetzt worden, in denen Äpfel, Birnen und Feigen wuchsen. Nur wenige Meter von ihnen entfernt floss der Rio Tormes, unter dessen bemoosten Steinen große Forellen standen. Früher hatte Ricardo hier oft geangelt. Diese Stelle wäre ein idealer Rastplatz gewesen, aber sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.
Ricardo betrachtete die Sierra de Credos, den vor ihnen liegenden Gebirgszug mit dem fast dreitausend Meter hohen Almanzo. Auch dieses Gebiet kannte er gut. Es gab vier Routen durch das fast hundert Kilometer lange Massiv. Die schwierigsten führten über Bohoyo an der Nordflanke mit seinen Gletschern und Seen sowie über El Aranaz und Guisando auf der Südflanke, deren steile Granitfelsen mit Spalten durchsetzt waren. Dort gab es Cabras, wilde Bergziegen, und Wölfe. Der gefährliche Südanstieg war zugleich der kürzeste Weg, den Ricardo gewählt hätte, wenn er allein gewesen wäre. Wegen Schwester Graciela entschied er sich jedoch für den El-Pico-Paß, eine kurvenreiche ehemalige Römerstraße.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Ricardo. »Wir haben einen langen Marsch vor uns.«
Er hatte nicht die Absicht, zu dem Treffen mit den anderen in Logrono zu spät zu kommen. Ab dort konnten sich andere um diese schweigsame Nonne kümmern.
Schwester Graciela wartete still darauf, dass Ricardo die Führung übernahm. Am Beginn des steilen Bergpfads rutschte sie auf Geröll aus, und Ricardo wollte ihr instinktiv aufhelfen. Sie zuckte wiederum vor seiner Hand zurück und richtete sich allein auf. Gut, wie du willst! dachte er aufgebracht. Meinetwegen brichst du dir den Hals.
Sie kamen langsam höher und höher - dem schneebedeckten Gipfel entgegen. Während sie bei sinkenden Temperaturen durch Tannenwald nach Osten aufstiegen, wurde der steile Pfad allmählich schmaler. Vor ihnen lag das Dorf Ranacastanas, ein beliebter Stützpunkt für Bergsteiger und Skiläufer. Ricardo wusste, dass sie dort in behaglicher Wärme hätten essen und rasten können. Zu gefährlich, dachte er jedoch. Das Risiko, in eine Falle Acocas zu tappen, war zu groß.
Er wandte sich an Schwester Graciela. »Wir umgehen das Dorf. Halten Sie noch eine Weile aus, bevor wir rasten?«
Ihre Antwort bestand daraus, dass sie ihn wortlos stehen ließ und weiterging.
Ihre durch nichts provozierte Unhöflichkeit kränkte ihn. Gott sei Dank, dass ich sie in Logrono loswerde, dachte Ricardo. Weshalb ist mir beim Gedanken an eine Trennung trotzdem nicht ganz wohl?
Sie folgten dem Waldrand, machten einen weiten Bogen um das Dorf und waren bald wieder auf dem alten Bergpfad, der noch steiler wurde. Hinter einer Biegung kamen sie an einem verlassenen Adlerhorst vorbei. Nachdem sie das friedlich in der Nachmittagssonne liegende Dorf Arenas de San Pedro umgangen hatten, rasteten sie am Rio Eresma. Das klare Wasser dieses Gebirgsbachs war eiskalt.