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In der Abenddämmerung erreichten sie ein als Boca de Asno -Affenmaul - bezeichnetes wildes Gebiet. Drei Meter hohe orangerote Holzstangen am Wegrand zeigten die im Winter erreichten Schneehöhen an. Sie befanden sich in Aguila, einem Gebiet, das wegen seiner Höhlen bekannt war. Von dort aus führte der Pfad bergab weiter.

Von jetzt an haben wir ’s leichter, dachte Ricardo. Das Schlimmste liegt hinter uns.

Dann hörte er ein leises Brummen über ihnen, hob den Kopf und suchte die Geräuschquelle. Ein Militärflugzeug erschien über dem nächsten Grat und kam geradewegs auf sie zu.

»Deckung!« rief Ricardo. »Hinlegen!«

Graciela ging unbeirrt weiter. Das Flugzeug kreiste und begann tiefer herab zu gehen.

»Hinlegen!« brüllte Ricardo erneut.

Als Graciela nicht reagierte, warf er sich auf sie, riss sie mit sich zu Boden und begrub sie unter sich. Ihre Reaktion überraschte ihn völlig: Graciela begann hysterisch zu kreischen und sich wie eine Wilde gegen ihn zu wehren. Sie rammte ihm ein Knie in den Unterleib, fuhr ihm mit ihren Nägeln ins Gesicht und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Am erstaunlichsten war jedoch, dass sie ihn dabei in übelstem Gossenjargon beschimpfte. Ricardo erstarrte unter diesem Schwall von wüsten Schimpfwörtern und konnte nicht fassen, dass sie aus dem schönen Mund dieses Engels kamen.

Um sich vor ihren Krallen zu schützen, versuchte er, ihre Hände festzuhalten, aber Graciela kämpfte wie eine Wildkatze weiter.

»Aufhören!« brüllte Ricardo sie an. »Ich tue Ihnen doch nichts! Dort oben ist ein Aufklärungsflugzeug. Es hat uns gesichtet. Wir müssen weg von hier!«

Er drückte Graciela mit seinem Gewicht zu Boden, bis sie endlich aufgab. Im nächsten Augenblick begann sie hemmungslos zu schluchzen. Trotz seiner vielen Erfahrungen mit Frauen war Ricardo völlig ratlos. Er hielt eine hysterische Nonne fest, die über den Wortschatz eines Lastwagenfahrers verfügte, und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte.

Er sprach so ruhig und vernünftig wie möglich auf sie ein. »Schwester, wir müssen rasch ein Versteck finden. Der Pilot hat seine Entdeckung weitergemeldet, und in ein paar Stunden wimmelt’s hier oben von Soldaten. Wenn Sie je das Kloster erreichen wollen, stehen Sie jetzt auf und kommen mit.«

Ricardo wartete noch einen Augenblick, ließ sie dann los und blieb neben ihr sitzen, bis ihr Schluchzen verstummte. Schließlich setzte Graciela sich ebenfalls auf. Obwohl sie Schmutz im Gesicht, zerzaustes Haar und rotgeweinte Augen hatte, war sie so schön, dass Ricardos Herz bei ihrem Anblick schmerzte.

»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe«, sagte er ruhig. »Ihnen gegenüber kann ich mich anscheinend nicht normal benehmen. Aber ich verspreche Ihnen, in Zukunft rücksichtsvoller zu sein.«

Graciela blickte mit Tränen in ihren leuchtenden schwarzen Augen zu ihm auf, aber Ricardo wusste nicht, was sie dachte. Als er seufzend aufstand, folgte sie seinem Beispiel.

»In diesem Gebiet gibt’s zahlreiche Höhlen«, erklärte Ricardo ihr. »Heute Nacht verstecken wir uns in einer davon. Bei Tagesanbruch können wir weitermarschieren.«

Obwohl sein Gesicht zerkratzt war und er aus einigen der Schrammen blutete, spürte er Gracielas Wehrlosigkeit und eine Zerbrechlichkeit, die ihn anrührte und in ihm das Bedürfnis weckte, etwas Tröstendes zu sagen. Aber jetzt war er derjenige, der sprachlos war.

Auch beim besten Willen fiel Ricardo nichts ein, was er hätte sagen können.

Die Cuevas del Aguila sind in Jahrmillionen durch Wind, Regen und Erdbeben entstanden und weisen die unterschiedlichsten Formen auf. Einige dieser Höhlen sind lediglich flache Felsnischen, andere dagegen endlos lange Tunnels, die noch kein Mensch erforscht hat.

Gut eineinhalb Kilometer von der Stelle entfernt, wo der Aufklärer sie überflogen hatte, fand Ricardo eine Höhle, die seinen Vorstellungen entsprach. Ihr niedriger Eingang war hinter Buschwerk fast unsichtbar.

»Sie bleiben draußen«, wies er Schwester Graciela an.

Er musste sich bücken, um in die Höhle zu gelangen, aber hinter dem Eingang konnte er sich wieder aufrichten. Im von außen einfallenden schwachen Schein des letzten Tageslichts konnte er nicht beurteilen, wie lang die Höhle war. Aber das störte nicht weiter, denn er hatte keinen Grund, sie zu erforschen.

Ricardo kam zu Graciela zurück.

»Die Höhle scheint sicher zu sein«, berichtete er. »Warten Sie bitte drinnen auf mich. Ich suche nur ein paar Zweige zusammen, um den Eingang damit zu tarnen. Ich bin in ein paar Minuten zurück.«

Er sah Graciela nach, als sie wortlos in der Höhle verschwand, und fragte sich, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam. Dabei wurde ihm klar, wie sehnlich er sich wünschte, sie möge da sein.

Graciela beobachtete aus der Höhle, wie Ricardo sich entfernte. Dann sank sie verzweifelt auf den kalten Felsboden.

Ich hält’s nicht mehr aus! dachte sie. Wo bist du, Jesus? Erlöse mich aus dieser Hölle!

Und es war eine Hölle gewesen. Graciela hatte von Anfang an dagegen angekämpft, dass sie sich zu Ricardo hingezogen fühlte. Sie hatte an den Mauren gedacht. Ich habe Angst vor mir selbst - vor dem Bösen in mir. Ich begehre diesen Mann, aber ich darf meinem Begehren nicht nachgeben.

Und so hatte sie einen Wall des Schweigens zwischen ihnen aufgerichtet: des Schweigens, mit dem sie im Kloster gelebt hatte. Ohne die Ordenszucht, ohne Bußen und Gebete, ohne die Krücken starrer Routine war Graciela jetzt jedoch außerstande, ihrer inneren Dunkelheit zu entfliehen. Sie hatte endlose Jahre damit zugebracht, die satanischen Triebe ihres Körpers zu unterdrücken und gegen die Laute, das Stöhnen und die Seufzer anzukämpfen, die aus dem Bett ihrer Mutter an ihr Ohr gedrungen waren.

Der Maure betrachtete Gradelas nackten Körper.

Du bist noch ein Kind. Zieh dich an und verschwinde.

Ich hin kein Kind mehr!

Graciela hatte sich viele Jahre lang bemüht zu vergessen, wie es gewesen war, den Mauren in sich zu haben; sie hatte versucht, den wundervollen Rhythmus ihrer Körper zu verdrängen, bei dem sie sich endlich ganz lebendig gefühlt hatte.

Du Schlampe! kreischte ihre Mutter.

Und der junge Arzt sagte: Wir haben eine Platzwunde auf Ihrer Stirn nähen müssen. Das hat der Chefarzt unserer Chirurgie selbst übernommen. Er hat gesagt, Sie seien zu schön, um Narben haben zu dürfen.

All diese betend und büßend verbrachten Jahre hatten sie von der Sünde erlösen sollen. Aber sie hatten es nicht geschafft.

Schon beim ersten Anblick Ricardo Mellados hatte Gracielas Vergangenheit sich mit Macht zurückgemeldet. Er sah gut aus und war freundlich und rücksichtsvoll. Als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, eines Tages einen Mann wie ihn zu bekommen. Und wenn er ihr nahe war oder sie gar berührte, schien ihr Körper in Flammen zu stehen, und sie empfand tiefe Scham. Ich bin eine Braut Christi, und meine Gedanken sind Verrat an ihm. Ich gehöre dir, Jesus. Bitte hilf mir! Befreie mich von meinen sündigen Gedanken.

Graciela hatte sich verzweifelt angestrengt, den Wall des Schweigens zu erhalten: einen Wall, den nur Gott durchdringen konnte, einen Wall, der den Teufel abhalten sollte. Aber wollte sie den Teufel aussperren? Als Ricardo sie angefallen und zu Boden gerissen hatte, war er der Maure gewesen, der sie liebte, und der Pater, der sie zu vergewaltigen versuchte, und Graciela hatte sie in emporwallender Panik abgewehrt. Nein, gestand sie sich ein, das ist nicht wahr. Sie hatte gegen ihr eigenes starkes Begehren angekämpft. Sie hatte zwischen geistigem Wollen und körperlicher Begierde geschwankt. Ich darf nicht nachgeben. Ich muss ins Kloster zurück. Er wird jeden Augenblick zurückkommen. Was soll ich nur tun?