»Siehst du, Caro? Du erholst dich bereits. Bald geht’s dir wieder ganz gut. Ich hab’s dir doch gesagt! Du wirst sehen, wie wunderbar unser Leben miteinander wird, Rubio. Aber du darfst bitte nicht sterben. Bitte nicht!«
Sie merkte, dass sie weinte.
Sie beobachtete, wie die nachmittäglichen Schatten länger wurden und zuletzt das ganze Kirchenschiff einhüllten. Die untergehende Sonne ließ den Himmel dunkler werden, bis es schließlich finster war. Lucia hatte Ru-bios Verband eben wieder gewechselt, als die Turmuhr scheinbar ganz in ihrer Nähe so laut zu schlagen begann, dass sie erschrak. Sie zählte mit angehaltenem Atem mit. Eins. drei. fünf. sieben. acht. Acht Uhr. Die Glocke rief sie, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit war, ins Leihhaus zurückzugehen. Dass es Zeit wurde, diesem Alptraum zu entkommen und sich zu retten.
Sie kniete neben Rubio nieder und legte ihm erneut eine Hand auf die Stirn. Er hatte hohes Fieber. Sein Körper war schweißnass, und er atmete flach und keuchend. Sie sah kein frisches Blut mehr, aber das konnte bedeuten, dass er innere Blutungen hatte. Verdammt noch mal, du musst dich selbst retten, Lucia!
»Rubio. Liebster.«
Er schlug die Augen auf, war aber offenbar nur halb bei Bewusstsein.
»Ich muss für eine Weile fort«, sagte Lucia.
Er umklammerte ihre Hand. »Bitte.«
»Keine Angst«, flüsterte sie, »ich komme bald wieder.«
Lucia stand auf und warf ihm einen langen Abschiedsblick zu. Du kannst ihm nicht helfen, dachte sie.
Sie griff nach dem goldenen Kruzifix, wandte sich ab und hastete mit Tränen in den Augen aus der Kirche. Sie stolperte auf die Straße hinaus und ging rasch in Richtung Leihhaus davon. Dort warteten der Pfandleiher und sein Verwandter mit ihrem Reisepass in die Freiheit auf sie. Morgen vor der Frühmesse finden sie Rubio und holen einen Arzt. Er kommt ins Krankenhaus und wird wieder gesund. Allerdings überlebt er diese Nacht wahrscheinlich nicht, dachte Lucia. Aber das ist nicht dein Problem.
Vor ihr lag die Casa de Empenos. Lucia hatte sich nur ein paar Minuten verspätet. Sie sah, dass in dem kleinen Laden noch Licht brannte. Die beiden Männer warteten auf sie.
Sie begann, schneller zu gehen, sogar zu rennen. Sie überquerte die Straße und stürzte durch die offene Tür.
In der Polizeistation saß ein uniformierter Beamter hinter dem Schreibtisch des Wachhabenden. Er sah auf, als Lucia schweratmend vor ihm stehen blieb.
»Ich brauche Sie!« rief Lucia aus. »Bei einer Messerstecherei ist ein Mann verletzt worden! Er liegt vielleicht im Sterben!«
Der Polizeibeamte stellte keine Fragen. Er griff nach einem Telefonhörer, sprach kurz hinein und legte wieder auf. »Meine Kollegen kommen sofort«, versicherte er Lucia.
Sekunden später erschienen zwei Kriminalbeamte.
»Bei einer Messerstecherei ist ein Mann verletzt worden, Senorita?«
»Ja, kommen Sie bitte mit! Schnell!«
»Wir holen erst den Arzt«, schlug einer der Kriminalbeamten vor. »Danach können Sie uns zu Ihrem Freund bringen.«
Sie trafen den Arzt in seinem Haus an, nahmen ihn mit, und Lucia fuhr mit den drei Männern zur Kirche zurück.
In der Kirche kniete der Arzt neben der reglosen Gestalt auf dem Steinboden nieder und untersuchte Rubio im Licht einer Taschenlampe.
Einen Augenblick später sah er auf. »Er lebt noch, aber nur mit knapper Not. Ich lasse einen Krankenwagen kommen.«
Lucia sank auf die Knie und betete stumm: Gott, ich danke dir! Ich habe getan, was ich konnte. Lass mich jetzt noch entkommen, dann belästige ich dich nie wieder.
Einer der Kriminalbeamten hatte Lucia schon auf der Fahrt zur Kirche immer wieder gemustert. Sie kam ihm so bekannt vor. Und jetzt wusste er plötzlich, weshalb. Sie sah einem Fahndungsfoto auf der roten, der wichtigsten Interpol-Fahndungsliste verdammt ähnlich!
Der Beamte flüsterte seinem Kollegen etwas zu, worauf der zweite Mann sie ebenfalls anstarrte. Dann kamen die beiden Männer auf Lucia zu.
»Entschuldigung, Senorita, aber würden Sie uns zur Station zurück begleiten? Wir müssen Ihnen noch einige Fragen stellen.«
28
Ricardo Mellado hatte die Höhle schon fast wieder erreicht, als er plötzlich einen großen grauen Wolf auf den Eingang zutrotten sah. Nach einem Augenblick, in dem er vor Schreck starr war, bewegte er sich schneller als je zuvor in seinem Leben. Während er zum Höhleneingang rannte, zog er bereits seine Pistole. Im nächsten Augenblick war er in der Höhle.
»Schwester!«
Im Dämmerlicht sah er, wie das riesige graue Tier Gra-ciela ansprang, riss seine Waffe hoch und schoss. Der Wolf heulte auf, ließ von seinem Opfer ab und stürzte sich auf Ricardo. Er spürte, wie die Fänge des angeschossenen Tiers seine Kleidung zerfetzten, und roch den Raubtieratem des Wolfs. Das Tier war stärker und schwerer, als er erwartet hatte, und sein Ansturm ließ ihn nicht mehr zum Schuss kommen.
Ricardo kämpfte mit schwindenden Kräften gegen das Raubtier an. »Weg!« keuchte er, als er undeutlich wahrnahm, dass Graciela näher kam.
Er sah Gracielas Hände über seinem Kopf, und als sie herab fielen, erkannte er, dass sie einen großen Felsbrocken in den Händen hielt, und dachte: Sie will mir den Schädel einschlagen.
Im nächsten Augenblick zertrümmerte der Felsbrocken jedoch den Schädel des Wolfs, der zuckend verendete. Ricardo blieb nach Atem ringend auf dem Höhlenboden liegen. Graciela kniete neben ihm nieder.
»Bist du verletzt?« Ihre Stimme zitterte vor Besorgnis.
Ricardo konnte nur den Kopf schütteln. Er hörte ein Winseln hinter sich, drehte sich um und erkannte undeutlich die in einer Ecke der Höhle zusammengedrängten Wolfsjungen. Als er wieder zu Atem gekommen war, stand er mit Gracielas Hilfe auf.
Sie stolperten mit weichen Knien in die frische Bergluft hinaus. Ricardo blieb auf Graciela gestützt stehen und holte mehrmals tief Luft, bis er wieder klar denken konnte. Der körperliche und emotionale Schock, dem Tod nur um Haaresbreite entkommen zu sein, hatte ihnen beiden schwer zugesetzt.
»Komm, wir müssen weg, bevor sie uns hier finden!« stellte Ricardo schließlich fest.
Graciela erschauderte bei dem Gedanken an die Gefahr, in der sie noch immer schwebten.
Sie folgten dem jetzt bergab führenden Pfad noch eine Stunde lang. »Hier können wir bleiben«, sagte Ricardo, als sie einen kleinen Bergbach erreichten.
Da sie weder Desinfektions- noch Verbandmaterial hatten, säuberten sie ihre Hautabschürfungen und Kratzwunden notdürftig in dem kalten, klaren Quellwasser. Ricardos linker Arm war so steif, dass er ihn kaum bewegen konnte. Zu seiner Überraschung sagte Graciela: »Komm, lass mich die Wunden auswaschen.«
Noch mehr überraschte ihn, wie sanft und geschickt sie dabei arbeitete.
Dann machte sich die Nachwirkung des erlittenen Schocks plötzlich bemerkbar: Graciela begann heftig zu zittern.
»Schon gut, schon gut«, sagte Ricardo beruhigend. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«
Sie konnte nicht zu zittern aufhören.
Ricardo schloss sie in die Arme. »Pst! Der Wolf ist tot. Er kann dir nichts mehr tun.«
Im nächsten Augenblick drängte Graciela sich gegen ihn, und ihre weichen Lippen pressten sich auf seine. Dann drückte sie ihn an sich und flüsterte unverständliche Koseworte. Sobald Ricardo sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, erwiderte er ihre Küsse leidenschaftlich.
Es war, als habe er Graciela schon immer gekannt. Und trotzdem wusste er fast nichts über sie. Außer, dass sie ein Wunder Gottes ist, dachte er.
Auch Graciela dachte an Gott. Herr, ich danke dir für diese Freude. Ich danke dir, dass du mich endlich hast fühlen lassen, was wahre Liebe ist.