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Ricardo, dem Gracielas Schönheit noch immer den Atem verschlug, starrte sie bewundernd an. Sie gehört jetzt mir, sagte er sich. Sie braucht in kein Kloster zurückzugehen. Wir heiraten und bekommen schöne Kinder... starke Söhne.

»Ich liebe dich«, flüsterte er. »Ich lasse dich nie mehr fort, Graciela.«

»Ricardo.«

»Liebling, ich möchte dich heiraten. Willst du meine Frau werden?«

»Ja«, antwortete Graciela impulsiv. »O ja!«

Dann lag sie wieder in seinen Armen und dachte: Das habe ich mir immer gewünscht und geglaubt, es niemals zu bekommen.

»Wir können eine Zeitlang in Frankreich leben, wo wir in Sicherheit sind«, fuhr Ricardo fort. »Unser Kampf ist bald zu Ende - und dann kommen wir nach Spanien zurück.«

Und Graciela wusste, dass sie diesem Mann bis ans Ende der Welt folgen und alle Gefahren mit ihm teilen würde.

Sie sprachen über alles mögliche. Ricardo erzählte ihr, wie er zu Jaime Miro gestoßen war, und berichtete von der verständnislosen Haltung seines Vaters und der aufgelösten Verlobung. Aber als er darauf wartete, dass Graciela aus ihrem früheren Leben erzählen würde, blieb sie stumm.

Ich kann’s ihm nicht sagen, dachte Graciela, sonst hasst er mich. »Nimm mich ganz fest in die Arme, Ricardo«, bat sie ihn nur.

Sie schliefen todmüde ein und wachten erst bei Tagesanbruch auf, als die höher steigende Morgensonne die Berggipfel über ihnen vergoldete.

»Am besten bleiben wir tagsüber hier, wo wir sicher sind«, schlug Ricardo vor, »und brechen erst wieder auf, wenn’s dunkel wird.«

Sie aßen von den Vorräten, die die Zigeuner ihnen mitgegeben hatten, und schmiedeten Zukunftspläne.

»Spanien bietet wundervolle Möglichkeiten«, meinte Ricardo. »Oder wird sie bieten, sobald Frieden herrscht. Ich habe Dutzende von Ideen. Wir machen eine eigene Firma auf. Wir kaufen uns ein schönes Haus und bekommen starke Söhne.«

»Und schöne Töchter.«

»Und schöne Töchter.« Er lächelte. »Ich habe nie geahnt, dass ich eines Tages so glücklich sein würde.«

»Ich auch nicht, Ricardo.«

»In zwei Tagen sind wir in Logrono und treffen mit den anderen zusammen«, stellte Ricardo fest. Er griff nach ihrer Hand. »Dann sagen wir ihnen, dass du nicht ins Kloster zurückgehst.«

»Ob sie’s verstehen werden?« Dann lachte Graciela.

»Sollen sie doch denken, was sie wollen! Gott versteht mich, das weiß ich. Das Leben im Kloster ist schön gewesen«, fügte sie leise hinzu, »aber.« Sie beugte sich zu Ricardo hinüber und küsste ihn.

»Ich habe soviel an dir wieder gut zu machen«, meinte Ricardo.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das verstehe ich nicht.«

»All die Jahre, die du hinter Klostermauern eingesperrt gewesen bist. Sag mir, Liebling - stört es dich nicht, all diese Jahre verloren zu haben?«

Wie sollte sie ihm das erklären? »Ricardo, ich. ich habe nichts verloren. Habe ich denn wirklich soviel Wertvolles versäumt?«

Er dachte darüber nach und wusste nicht, wo er beginnen sollte. Dabei wurde ihm klar, dass Ereignisse, die er für wichtig hielt, sich auf die Nonnen in ihrer selbst gewählten Isolierung gar nicht ausgewirkt haben würden. Kriege wie der arabisch-israelische Sechstagekrieg? Politische Morde, deren Opfer der amerikanische Präsident John F. Kennedy und sein Bruder Robert geworden waren? Oder der Mord an dem großen schwarzen amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King jr.? Die Berliner Mauer? Erdbeben? Hungersnöte? Überschwemmungen? Streiks, Demonstrationen und Aufstände aus Protest gegen die inhumane Behandlung von Menschen durch Menschen?

Wie sehr würden alle diese Ereignisse sich letzten Endes auf ihre persönliche Existenz ausgewirkt haben? Oder auf die persönliche Existenz des weitaus größten Teils der Weltbevölkerung?

»In gewisser Beziehung hast du nicht viel versäumt«, gab Ricardo schließlich zu. »Aber in anderer eben doch!

Das Leben ist weitergegangen, Graciela. Während du eingesperrt gewesen bist, sind Kinder auf die Welt gekommen und herangewachsen; Liebespaare haben geheiratet; Menschen sind glücklich gewesen und haben gelitten; Menschen sind gestorben, und wir alle hier draußen haben am Leben teilgehabt, sind Teil dieses Lebens gewesen.«

»Glaubst du, dass ich das nie gewesen bin?« fragte Graciela aufgebracht. »Ich habe früher an diesem Leben teilgehabt und es als Hölle auf Erden empfunden! Meine Mutter ist ‘ne Nutte gewesen, und ich habe jede Nacht einen anderen Onkel gehabt. Als Vierzehnjährige bin ich mit einem Mann ins Bett gegangen, weil er mir gefallen hat und ich auf meine Mutter und ihren Beruf eifersüchtig gewesen bin.« Ihre Worte überstürzten sich fast.

»Wäre ich ein Teil dieses Lebens geblieben, das du für so kostbar hältst, wäre ich auch ‘ne Nutte geworden! Nein, ich bin vor nichts weggelaufen. Ich bin zu etwas gelaufen, Ricardo. Ich habe eine sichere Zuflucht in guter, friedvoller Umgebung gefunden.«

Ricardo starrte sie entsetzt an. »Ich.« Er nahm einen neuen Anlauf. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht.«

Sie schluchzte jetzt. Er nahm sie in die Arme und sagte leise: »Pst, nicht weinen. Das ist alles lange her. Du bist noch ein Kind gewesen. Ich liebe dich.«

Und Graciela hatte das Gefühl, Ricardo habe ihr eine Absolution erteilt. Sie hatte ihm ihre schlimme Vergangenheit gestanden, und er trug sie ihr nicht nach. Und -Wunder über Wunder! - er liebte sie noch immer.

Ricardo hielt sie an sich gedrückt. »Ich möchte dir ein Gedicht von Federico Garcia Lorca aufsagen:

Die Nacht will nicht kommen,

damit du nicht kommen kannst und ich nicht gehen kann.

Aber du wirst kommen mit vom Salzregen verbrannter Zunge.

Der Tag will nicht kommen, damit du nicht kommen kannst und ich nicht kommen und nicht gehen kann.

Aber ich werde kommen durch die trüben Wasser der Dunkelheit.

Weder Tag noch Nacht wollen kommen, damit ich für dich sterben kann und du für mich sterben kannst.«

Graciela dachte plötzlich an die Soldaten, von denen sie gejagt wurden, und fragte sich, ob Ricardo und sie lange genug leben würden, um eine gemeinsame Zukunft zu haben.

29

Irgendwo fehlte ein Bindeglied, ein Hinweis auf die Vergangenheit, und Alan Tucker war entschlossen, ihn aufzuspüren. Im Zeitungsarchiv hatte sich kein Hinweis auf ein ausgesetztes Kleinkind gefunden, aber das Datum, an dem die Kleine ins Waisenhaus gekommen war, musste sich leicht feststellen lassen. Falls es mit dem des Flugzeugabsturzes übereinstimmte, würde es Ellen Scott schwer fallen, eine glaubhafte Erklärung für diesen Zufall vorzubringen.

So dumm kann sie nicht gewesen sein, dachte Tucker. Einfach vorzugeben, die Erbin des Vermögens der Scotts sei tot, und sie vor der Tür eines spanischen Bauern auszusetzen... Riskant, sehr riskant! Andererseits hat ein hoher Preis gelockt: die Firma Scott Industries. Ja, sie kann ’s geschafft haben. Falls das ihre Leiche im Keller ist, lebt sie noch - und wird sie ‘ne Stange Geld kosten.

Tucker wusste, dass er sehr vorsichtig sein musste. Er machte sich keine Illusionen darüber, mit wem er es zu tun hatte. Ellen Scott hatte die Macht, ihn zu vernichten. Er war sich im klaren darüber, dass er sämtliche Beweise in der Hand haben musste, bevor er seine Forderungen stellte.

Als erstes suchte er wieder Pater Berrendo auf.

»Pater, ich möchte mit dem Bauern und seiner Frau sprechen, die Patricia. Megan damals aufgefunden haben.«

Der alte Geistliche lächelte. »Hoffentlich dauert es noch recht lange, bis Sie dieses Gespräch führen können.«

Tucker starrte ihn an. »Was soll das heißen?«

»Die beiden sind seit vielen Jahren tot.«