Damit war alles aus. Er hatte sein Traumgebäude auf zu schwankenden Fundamenten errichtet. Patricia Scott war also tatsächlich bei dem Flugzeugabsturz umgekommen. Und dass Ellen Scott ein etwa zur selben Zeit ausgesetztes Mädchen suchen ließ, war wirklich nur ein Zufall.
Alan Tucker stand schwerfällig auf. »Danke, Senora«, murmelte er.
»Denada, Senor.«
Sie sah ihm nach, als er ging. Ein wirklich netter Mann. Und so großzügig! Seine fünfhundert Dollar würden für viele wichtige Anschaffungen fürs Waisenhaus reichen. Das galt natürlich erst recht für den Scheck über hunderttausend Dollar, den die nette Dame, die aus New York angerufen hatte, geschickt hatte. Der 10. Oktober ist wirklich ein Glückstag für unser Haus gewesen, Herr, ich danke dir!
Alan Tucker erstattete Bericht.
»Noch immer keine gesicherten Erkenntnisse, Mrs. Scott. Angeblich sind sie nach Norden unterwegs. Soviel ich weiß, ist ihr bisher nichts zugestoßen.«
Seine Stimme klingt plötzlich ganz anders, dachte Ellen Scott. Nicht mehr so drohend wie in letzter Zeit. Er ist also im Waisenhaus gewesen. Jetzt ist er wieder mein Angestellter. Aber sobald er Patricia gefunden hat, wird sich auch das ändern.
»Melden Sie sich morgen wieder.«
»Ja, Mrs. Scott.«
30
»Bewahre mich, Gott, denn ich traue auf dich. Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils und mein Schutz! Ich rufe an den Herrn, den Hochgelobten, so werde ich von meinen Feinden erlöst.«
Schwester Megan sah auf und stellte fest, dass Felix Carpio sie mit besorgter Miene beobachtete.
Sie hat wirklich Angst, dachte er.
Seitdem ihr langer Marsch begonnen hatte, war ihm Schwester Megans tiefe Besorgnis aufgefallen. Dass sie die empfindet, ist ganz natürlich. Sie ist so lange hinter Klostermauern eingesperrt gewesen - und jetzt muss sie sich plötzlich in einer erschreckend fremdartigen Welt zurechtfinden. Wir müssen sehr behutsam mit dem armen Mädchen umgehen.
Schwester Megan hatte tatsächlich Angst. Seitdem sie das Kloster verlassen hatte, betete sie jeden Tag eifrig.
Vergib mir, o Herr, denn ich liebe die aufregenden neuen Erlebnisse und weiß, dass das schlecht von mir ist.
Das Bewusstsein, dass dies das aufregendste Abenteuer ihres Lebens war, ließ sich jedoch nicht unterdrücken, so eifrig Schwester Megan auch betete. Im Waisenhaus hatte sie oft von tollkühnen Fluchtunternehmen geträumt, aber das waren Kinderspiele gewesen. Dies war die Wirklichkeit. Sie befand sich in der Gewalt von Terroristen, und sie wurden von Polizei und Militär gejagt. Anstatt in tausend Ängsten zu schweben, fühlte Schwester Megan sich seltsam angeregt.
Sie waren die ganze Nacht unterwegs gewesen und rasteten bei Tagesanbruch. Megan und Amparo standen hinter Jaime und Felix, die anhand einer ausgebreiteten Karte über die weitere Route berieten.
»Nach Salamanca sind’s acht Kilometer«, sagte Jaime Miro.
»Am besten umgehen wir die Stadt. Dort ist Militär stationiert. Wir biegen nach Nordwesten in Richtung Valladolid ab. Das müssten wir am frühen Nachmittag erreichen.«
Mühelos, dachte Schwester Megan zufrieden.
Hinter ihnen lag eine lange, anstrengende Nacht ohne Ruhepause, aber Megan fühlte sich wundervoll. Jaime hatte das Marschtempo der Gruppe absichtlich verschärft. Megan wusste, dass er sie damit auf die Probe stellen wollte, um zu sehen, wann sie schlappmachen würde. Er wird sein blaues Wunder erleben! dachte Megan.
Tatsächlich fand Jaime Miro sie unterdessen eigenartig interessant. Schwester Megan benahm sich ganz und gar nicht wie eine Nonne. Sie war weit von ihrem Kloster entfernt, zog durch unbekannte Gegenden, wurde von Bewaffneten verfolgt - und schien sogar Spaß daran zu haben. Was für eine Nonne ist sie bloß? fragte Jaime sich.
Amparo Jiron war weniger beeindruckt. Ich bin froh, wenn wir sie wieder vom Hals haben, dachte sie. Bis dahin blieb sie in Jaimes Nähe und ließ die Nonne neben Felix Carpio gehen.
Die Landschaft unter dem zart duftenden Hauch des Sommerwindes war wild und schön. Sie kamen an alten Dörfern vorbei, von denen einige unbewohnt und verlassen waren, und sahen hoch auf einem Hügel eine alte Burgruine.
Amparo erschien Megan wie ein Wildtier, das mühelos über Berg und Tal streifte und keine Ermattung zu kennen schien.
Als viele Stunden später Valladolid in der Ferne aufragte, machte Jaime halt.
Er wandte sich an Felix. »Ist alles vorbereitet?«
»Ja.«
Megan fragte sich, was vorbereitet sein sollte. Aber das erfuhr sie gleich.
»Tomas hat Anweisung, in der Stierkampfarena mit uns Verbindung aufzunehmen.«
»Wann schließt die Bank?«
»Um siebzehn Uhr. Wir haben reichlich Zeit.«
Jaime nickte. »Und heute dürfte der Kassenbestand ziemlich hoch sein.«
Großer Gott, sie wollen eine Bank überfallen! dachte Megan. Das versprach mehr Aufregung, als sie sich gewünscht hatte.
»Wie steht’s mit einem Wagen?« erkundigte Amparo sich.
»Kein Problem«, versicherte Jaime ihr.
Sie wollen ein Auto stehlen, dachte Megan. Das wird Gott nicht gefallen.
»Wir tauchen in der Menge unter«, sagte Jaime, als die Gruppe die Außenbezirke von Valladolid erreichte. »Heute ist Stierkampftag, da sind Tausende unterwegs. Aber passt auf, dass wir nicht getrennt werden.«
Was die Menschenmassen betraf, behielt Jaime Miro recht. Megan hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Auf den Straßen drängten sich Autos, Fußgänger und Motorradfahrer, denn der Stierkampf zog nicht nur Touristen, sondern auch die Einwohner umliegender Städte an. Selbst die Kinder auf der Straße spielten Stierkampf.
Megan fand das Gedränge, den Lärm und das bunte Treiben um sie herum faszinierend. Sie blickte in die Gesichter von Passanten und fragte sich, wie ihr Leben verlaufen mochte. Ich bin bald genug wieder im Kloster, wo ich niemanden ansehen darf. Deshalb muss ich diese Gelegenheit nutzen, solange ich kann.
Die Gehsteige, über denen Öldunst aus zahlreichen Ständen lag, die frittierte Obstschnitten verkauften, füllten sich mit Straßenhändlern, die Andenken, geweihte Medaillen und Kreuzchen an Silberketten anboten.
Megan merkte plötzlich, wie hungrig sie war.
»Jaime, wir sind alle hungrig«, sagte Felix wenig später. »Wenn ihr einen Augenblick wartet, hole ich uns was.«
Felix kaufte vier frittierte Obstschnitten und gab eine davon Megan. »Versuchen Sie die mal, Schwester. Die wird Ihnen schmecken.«
Und sie schmeckte köstlich! Die karge Klosterkost war nie ein Genuss, sondern stets nur Mittel zum Zweck gewesen, um die Nonnen zum Ruhme Gottes bei Kräften zu halten. Das ist endlich das Richtige für mich, dachte Me-gan respektlos.
»Dort vorn geht’s zur Arena«, sagte Jaime.
Sie ließen sich von der Menge am Park in der Stadtmitte vorbei zur Plaza Pinente schieben, die in die Plaza de Toros überging. Die Stierkampfarena selbst befand sich in einem riesigen dreigeschossigen Bau aus luftgetrockneten Ziegeln. Auf beiden Seiten des Eingangs waren je zwei Kassenschalter geöffnet. Über den linken stand Sol, über den rechten Sombra - Sonne oder Schatten. Vor den Kassen warteten Hunderte von Zuschauern, um Eintrittskarten zu kaufen.
»Ihr bleibt hier«, wies Jaime die anderen an.
Sie beobachteten, wie er zu den fünf oder sechs Schwarzhändlern hinüberging, die ebenfalls Karten anboten.