Megan wandte sich an Felix. »Sehen wir uns einen Stierkampf an?«
»Ja, aber Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen, Schwester«, versicherte Felix ihr. »Sie werden sehen, wie aufregend er ist.«
Sorgen? Megan fand diesen Gedanken aufregend! Im Waisenhaus hatte sie manchmal davon geträumt, ihr Vater sei ein berühmter Torero, und sämtliche Stierkampfbücher verschlungen, die ihr in die Hände gefallen waren.
»Die richtigen Stierkämpfe finden in Madrid oder Barcelona statt«, fuhr Felix fort. »Hier treten keine Profis, sondern Novilleros an. Das sind Amateure, die’s noch weit zur Alternativa haben.«
Megan wusste, dass die Alternativa eine den berühmtesten Matadoren vorbehaltene Auszeichnung war.
»Die Toreros, die wir heute sehen, kämpfen in Mietkostümen gegen Stiere mit zu gefeilten, gefährlichen Hörnern, gegen die kein Profi antreten würde.«
»Weshalb tun sie das?«
Felix Carpio zuckte mit den Schultern. »Mas cornadas da el hambre. Hunger ist schmerzlicher als die Hörner.«
Jaime Miro kam mit vier Eintrittskarten zurück. »Kommt, wir gehen gleich rein«, sagte er.
Megan spürte, wie wachsende Erregung von ihr Besitz ergriff.
Auf dem Weg zu ihrem Eingang kamen sie an einem an die Außenwand der riesigen Stierkampfarena geklebten Plakat vorbei. Megan blieb stehen und starrte es an.
»Seht nur!«
Das Fahndungsplakat zeigte Jaime Miro und enthielt außer seiner Personenbeschreibung folgenden Text: Wegen mehrfachen Mordes gesucht: Jaime Miro - 500000 Ptas. Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen! Als Megan das las, wurde ihr plötzlich wieder ernüchternd klar, dass sie mit einem Terroristen unterwegs war, der ihr Leben in seinen Händen hielt.
Jaime musterte sein Bild kritisch. »Nicht schlecht getroffen.« Er riss das Fahndungsplakat ab, faltete es zusammen und steckte es ein.
»Was hast du davon?« fragte Amparo ihn. »Wahrscheinlich sind Hunderte solcher Plakate aufgehängt worden.«
Jaime grinste. »Aber das hier bringt uns ein Vermögen ein, Querida.«
Welch seltsame Antwort! dachte Megan. Sie musste seine Gelassenheit widerstrebend anerkennen. Jaime Miro wirkte in jeder Lage unerschütterlich kompetent. Polizei und Militär werden ihn nie schnappen, sagte sie sich.
»Kommt, wir gehen rein.«
Zwölf in großen Abständen angeordnete Eingänge, deren nummerierte rote Eisentüren weit geöffnet worden waren, führten in die Arena. Unmittelbar dahinter befanden sich Puestos, an denen Coca-Cola und Bier verkauft wurde, und kleine Toiletten. Die steinernen Tribünen, auf denen alle Reihen und Sitze nummeriert waren, bildeten einen vollständigen Kreis um die mit Sand bestreute große Arena. Über all standen Werbetafeln: Banco Central... Boutique Calzados... Schweppes... Radio Popu-lar...
Jaime hatte Karten für Sitze im Schatten gekauft. Während sie auf den Steinsitzen Platz nahmen, sah Megan sich verwundert um. Diese Stierkampfarena entsprach ganz und gar nicht ihren Vorstellungen. Als Mädchen hatte sie romantische Farbfotos der riesigen, prunkvollen Madrider Arena gesehen. Im Gegensatz dazu wirkte die Arena in Valladolid eher primitiv. Sie füllte sich jetzt rasch mit Zuschauern.
Ein Trompetensignal erklang. Der Stierkampf begann.
Megan beugte sich mit weit aufgerissenen Augen nach vorn. Ein riesiger Stier stürmte in die Arena, und ein Matador trat hinter der seitlichen kleinen Holzbarriere hervor und begann, das Tier zu reizen.
»Als nächstes kommen die Pikadore«, sagte Megan aufgeregt.
Jaime Miro starrte sie verwundert an. Er hatte befürchtet, ihr werde beim Stierkampf übel werden, was unerwünschte Aufmerksamkeit erregen konnte. Stattdessen schien Megan Gefallen daran zu finden. Merkwürdig.
Ein Pikador auf einem durch eine schwere gepolsterte Decke geschützten Pferd ritt an den Stier heran. Der Stier griff mit gesenktem Kopf an, und als er seine Hörner in die Decke bohrte, stieß der Pikador ihm seine Zweimeterlanze in die Schulter.
Megan verfolgte die Vorgänge in der Arena sichtlich fasziniert. »Das tut er, um die Nackenmuskeln des Stiers zu schwächen«, erklärte sie dem neben ihr sitzenden Felix, indem sie sich an all die Bücher erinnerte, die sie vor vielen Jahren verschlungen hatte.
Felix Carpio nickte erstaunt. »Richtig, Schwester«, bestätigte er.
Megan beobachtete, wie mit farbigen Bändern geschmückte Banderillas paarweise in die Schultern des Stiers gestoßen wurden.
Nun war der Matador an der Reihe. Er trat mit einem um seinen Degen gewickelten roten Cape in die Arena. Der Stier warf sich herum und griff an.
Megan wurde noch aufgeregter. »Jetzt führt er seine Figuren vor«, sagte sie. »Zuerst die Pase veronica, dann die Media veronica und zuletzt die Rebolera.«
Jaime konnte seine Neugier nicht länger im Zaum halten. »Schwester, woher wissen Sie das alles?«
»Mein Vater ist Stierkämpfer gewesen«, behauptete Megan impulsiv. »Seht nur!«
Der Kampf entwickelte sich so rasch, dass Megan kaum mitkam. Der gereizte Stier stürmte immer wieder auf den Matador los, der jedes Mal sein rotes Cape zur Seite schwenkte und ihn damit von sich ablenkte.
Megan runzelte besorgt die Stirn. »Was ist, wenn der Matador verletzt wird?«
Jaime zuckte mit den Schultern. »In einem Nest wie diesem wird er wahrscheinlich zum Stadtbarbier gebracht, der ihn wieder zusammenflickt.«
Beim nächsten Angriff brachte der Matador sich durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit, was von den Zuschauern mit Buhrufen quittiert wurde.
»Schade, dass Sie keinen besseren Kampf sehen, Schwester«, sagte Felix entschuldigend. »Sie sollten einen der Großen erleben! Ich habe Manolete, el Cordobez und Ordonez gesehen. Sie haben den Stierkampf zu einem unvergesslichen Schauspiel gemacht.«
»Ich habe von ihnen gelesen«, bestätigte Megan.
»Kennen Sie die verrückte Geschichte, die über Mano-lete erzählt wird?« fragte Felix.
»Welche Geschichte?«
»Anfangs, so wird erzählt, ist Manolete nur ein gewöhnlicher Stierkämpfer gewesen - nicht besser und nicht schlechter als hundert andere auch. Er war mit einem schönen Mädchen verlobt, aber eines Tages hat ihm ein Stier die Hörner in den Unterleib gebohrt, und sein Arzt hat ihm erklärt, er könne nun keine Kinder mehr zeugen. Manolete hat seine Verlobte so geliebt, dass er ihr diesen Befund verschwiegen hat, weil er fürchtete, sie würde ihn dann nicht mehr wollen. Die beiden haben geheiratet, und nach ein paar Monaten hat sie Manolete stolz mitgeteilt, sie erwarte ein Baby. Nun, er hat natürlich gewusst, dass das nicht sein Kind sein konnte, und sie deshalb verlassen. Die Ärmste hat daraufhin Selbstmord begangen.
Manolete hat wie ein Verrückter reagiert. Er wollte nicht mehr weiterleben, deshalb hat er in der Arena Dinge gewagt wie noch kein Matador vor ihm. Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, weil er den Tod gesucht hat, und ist der größte Matador der Welt geworden. Zwei Jahre danach hat er sich wieder verliebt und das Mädchen geheiratet. Wenige Monate später hat sie ihm stolz mitgeteilt, sie erwarte ein Baby. Und bei dieser Gelegenheit hat Manolete dann entdeckt, dass sein Arzt sich geirrt hatte.«
»Wie schrecklich!« rief Megan aus.
Jaime lachte laut. »Eine interessante Geschichte! Ob was Wahres dran ist?«
»Warum nicht?« fragte Felix.
Amparo hörte mit ausdrucksloser Miene zu. Sie hatte Jaimes wachsendes Interesse an der Nonne verärgert registriert. Die Schwester soll sich lieber vorsehen.
Essenverkäufer mit vorgebundenen Schürzen stiegen die Tribüne hinauf und hinunter und riefen ihre Ware aus. Einer von ihnen näherte sich der Reihe, in der Jaime Miro und die anderen saßen.