Der Kassierer wurde noch blasser. »Bitte nicht!«
»Nachdem sie die Bank verlassen hat, warten Sie noch zehn Minuten, bevor Sie auf Ihren Knopf drücken«, wies Jaime ihn an.
»Beim Leben meiner Kinder«, flüsterte der Mann hinter dem Schalter.
»Buenas tardes.«
Jaime griff nach dem Aktenkoffer und durchquerte damit die Schalterhalle in Richtung Ausgang. Da er den Blick des Kassierers zwischen seinen Schultern spürte, blieb er neben der Frau in Blau stehen.
»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen«, sagte er charmant lächelnd. »Dieses Kleid steht Ihnen ausnehmend gut.«
Sie errötete leicht. »O Senor. vielen Dank!«
»Bitte, nichts zu danken.«
Jaime drehte sich um und nickte dem Kassierer zu, bevor er in aller Ruhe die Schalterhalle verließ. Bis die Frau erledigt hatte, was sie zu besorgen hatte, und ebenfalls ging, verstrich mindestens eine Viertelstunde. Bis dahin waren er und die anderen längst über alle Berge.
Als Jaime Miro aus der Bank trat und auf den Wagen zukam, wäre Megan vor Erleichterung fast ohnmächtig geworden.
Felix Carpio grinste. »Der Schweinehund hat’s geschafft!« Er drehte sich nach Megan um. »Entschuldigung, Schwester.«
Megan war überglücklich, Jaime zurückkommen zu sehen. Er hat ’s geschafft! dachte sie. Und ganz ohne fremde Hilfe! Die Schwestern werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle! Im nächsten Augenblick fiel ihr jedoch ein, dass sie niemandem davon würde erzählen können. Nach ihrer Rückkehr ins Kloster würde sie für den Rest ihres Lebens schweigen. Das war ein seltsames Gefühl.
»Rutsch rüber und lass mich fahren, Amigo«, sagte Jaime zu Felix. Er warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz.
»Hat alles geklappt?« erkundigte Amparo sich.
Jaime lachte. »Problemlos. Ich muss daran denken, mich bei Oberst Acoca für seine Visitenkarte zu bedanken.«
Sie fuhren los. Gleich an der ersten Ecke bog Jaime nach links in die Calle de Tudela ab. Schon nach zehn Metern trat jedoch ein Polizeibeamter zwischen zwei parkenden Wagen auf die Fahrbahn und hob gebieterisch die Hand. Megans Herz begann zu jagen, als Jaime bremsen musste.
Der Uniformierte kam auf den Seat zu.
»Was gibt’s denn?« erkundigte Jaime sich gelassen.
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie in Gegenrichtung durch eine Einbahnstraße fahren, Senor? Falls Sie nicht beweisen können, dass Sie blind sind, kommt Sie das teuer zu stehen.« Er deutete auf das Einbahnstraßenschild an der Ecke. »Diese Straße ist klar bezeichnet. Von Autofahrern wird erwartet, dass sie Verkehrszeichen beachten. Deshalb werden sie schließlich aufgestellt.«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, antwortete Jaime. »Meine Freunde und ich haben so angeregt diskutiert, dass ich das Schild glatt übersehen habe.«
Der Polizeibeamte bückte sich, um durchs Fahrerfenster sehen zu können. Er kniff die Augen zusammen, während er Jaime Miro betrachtete.
»Ihren Zulassungsschein, Senor«, verlangte er dann.
»Sofort«, sagte Jaime.
Er griff in die Innentasche seiner Jacke, in der seine Pistole steckte. Auch Felix war zum Eingreifen bereit. Megan hielt den Atem an.
Jaime gab vor, seine Jackentaschen zu durchsuchen. »Ich weiß, dass ich ihn irgendwo habe.«
In diesem Augenblick ertönten hinter ihnen laute Schreie, und der Polizeibeamte drehte sich sofort nach ihnen um. An der Straßenecke schlug ein Mann auf eine kreischende Frau ein.
»Hilfe!« rief sie. »Helft mir doch! Er bringt mich um!«
Der Uniformierte zögerte nicht lange. »Sie warten hier, Senor!« wies er Jaime Miro an.
Dann trabte er die Straße entlang auf den Mann und die Frau zu.
Jaime legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Seat schoss in falscher Richtung die Einbahnstraße hinunter, zwang entgegenkommende Fahrzeuge zum Ausweichen und wurde wütend angehupt. An der nächsten Ecke bog Jaime erneut ab und fuhr zu der Brücke weiter, die auf der Avenida Sanchez Arjona stadtauswärts führte.
Megan starrte Jaime an und bekreuzigte sich. Sie konnte kaum atmen.
»Hätten Sie. hätten Sie den Polizeibeamten erschossen, wenn dieser Mann nicht die Frau verprügelt hätte?«
Jaime würdigte sie keiner Antwort.
»Die Frau ist nicht wirklich angegriffen worden, Schwester«, erklärte Felix ihr. »Die beiden haben zu unseren Leuten gehört. Wir sind nicht allein. Wir haben viele Freunde.«
Jaime machte ein grimmiges Gesicht. »Wir müssen dieses Auto loswerden.«
Sie befanden sich in den Außenbezirken von Valladolid. Um nach Logrono zu kommen, bog Jaime auf die Straße N 620 nach Burgos ab. Er achtete darauf, die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht zu überschreiten.
»Irgendwo hinter Burgos besorgen wir uns einen anderen Wagen«, verkündete er.
Unglaublich, was ich alles erlebe! dachte Megan. Ich musste aus dem Kloster fliehen, bin auf der Flucht vor Polizei und Militär und fahre mit Terroristen, die vorhin eine Bank überfallen haben, in einem gestohlenen Wagen. Herr, was hast du noch mit mir vor?
31
Oberst Ramon Acoca und ein halbes Dutzend seiner GOE-Offiziere befanden sich mitten in einer Einsatzbesprechung. Sie studierten eine große Spanienkarte.
»Miro ist offensichtlich nach Norden in Richtung Baskenland unterwegs«, stellte der Oberst fest.
»Also nach Burgos, Vitoria, Logrono, Pamplona oder San Sebastian.«
San Sebastian, dachte Acoca. Aber ich muss ihn abfangen, bevor er dorthin kommt.
Er glaubte, die Stimme am Telefon zu hören: Ihre Zeit ist bald abgelaufen...
Diesmal durfte nichts mehr schief gehen.
Sie fuhren durch die sanft gewellte Hügellandschaft von Burgos.
Jaime, der am Steuer saß, schwieg nachdenklich. »Felix«, sagte er schließlich, »sobald wir in San Sebastian sind, müssen wir eine Befreiungsaktion planen, um Rubio aus den Händen der Polizei zu befreien.«
Felix nickte zustimmend. »Mit Vergnügen! Dann schnappen sie vor Wut über!«
»Was ist mit Schwester Lucia?« warf Megan ein.
»Was soll mit ihr sein?«
»Haben Sie nicht gesagt, sie sei ebenfalls verhaftet worden?«
»Richtig«, bestätigte Jaime trocken. »Aber wie sich herausgestellt hat, ist Ihre Schwester Lucia eine von der Polizei gesuchte Mörderin.«
Diese Nachricht traf Megan wie ein Keulenschlag. Sie erinnerte sich daran, wie Lucia die Initiative ergriffen und ihre Mitschwestern dazu überredet hatte, in die Berge zu flüchten. Sie hatte Schwester Lucia gern.
»Wenn Sie Rubio retten wollen«, stellte Megan hartnäckig fest, »könnten Sie gleich beide befreien.«
An was für eine verrückte Nonne bin ich da geraten? dachte Jaime.
Aber er musste zugeben, dass sie recht hatte. Eine Befreiung Rubios und Lucias aus der Polizeihaft hätte hohen Propagandawert und würde Schlagzeilen machen.
Amparo war in mürrisches Schweigen verfallen.
Weit vor ihnen auf der Straße rollten plötzlich drei Militärlaster.
»Am besten biegen wir bei nächster Gelegenheit ab«, entschied Jaime.
An der nächsten Kreuzung bog er in Richtung Osten auf die Straße N 120 ab.
»Vor uns liegt Santo Domingo de la Calzada. Dort steht eine verlassene Burg, in der wir übernachten können.«