Die Silhouette der Burg hoch auf einem Hügel war schon aus weiter Ferne zu erkennen. Jaime entschied sich für eine an der Stadt vorbeiführende Nebenstraße, und die Burg ragte immer gewaltiger vor ihnen auf, je näher sie ihr kamen. Einige hundert Meter von ihr entfernt lag ein kleiner See mit steilen Ufern.
Jaime hielt und zog die Handbremse an. »Alles aussteigen!« verlangte er.
Nachdem sie ausgestiegen waren, rangierte er den Wagen so, dass die Motorhaube bergab in Richtung See zeigte. Er legte einen Felsbrocken aufs Gaspedal, löste die Handbremse und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Dann sahen sie gemeinsam zu, wie der Seat sich überschlagend im Wasser verschwand.
Megan hätte beinahe gefragt, wie sie jetzt nach Logro-no kommen sollten. Aber sie schwieg noch rechtzeitig. Eine dumme Frage. Natürlich klauen sie einen anderen Wagen.
Die kleine Gruppe machte sich daran, die verlassene Burg zu inspizieren. Sie war von einem mächtigen Wall umgeben und hatte Ecktürme, die zum Teil schon eingestürzt waren.
»In solchen Burgen haben Herrscher früher gefangene Feinde eingesperrt«, erklärte Felix Megan.
Und Jaime ist ein Staatsfeind - aber für ihn gibt ’s kein Gefängnis, wenn er eines Tages gefasst wird. Für ihn gibt’s nur den Tod, dachte Megan. Trotzdem kennt er keine Angst. Sie erinnerte sich an seine Worte: Ich habe Vertrauen zu der Sache, für die ich kämpfe. Ich habe Vertrauen zu meinen Leuten und meinen Waffen.
Sie stiegen eine Steintreppe zum Burgtor hinauf. Das alte Eisentor war so verrostet, dass sie es aufstemmen und den gepflasterten Burghof betreten konnten.
Das Innere der Burg erschien Megan riesig. Schmale Gänge führten zu einer Vielzahl von Räumen, und in die massiven Außenmauern waren Schießscharten zur Abwehr von Angreifern eingelassen.
Eine Steintreppe führte zum ersten Stock mit einem weiteren Claustro - einem Innenhof - hinauf. Die Steinstufen wurden schmaler, als sie in den zweiten und dann in den dritten Stock hinaufstiegen. Die ganze Burg war unbewohnt.
»Na, wenigstens ist die Auswahl an Schlafzimmern reichlich«, meinte Jaime. »Felix und ich gehen los und besorgen was Essbares. Ihr könnt euch inzwischen Zimmer aussuchen.«
Die beiden Männer stiegen die Treppen hinab.
Amparo wandte sich an Megan. »Komm, Schwester.«
Sie gingen einen Korridor entlang, und Megan hatte den Eindruck, alle Räume sähen gleich aus. Sie waren kahle, düstere Steinzellen, von denen nur einige geräumiger als die meisten waren.
Amparo entschied sich für den größten Raum. »Jaime und ich schlafen hier.« Sie warf Megan einen Blick zu und fragte listig: »Möchtest du bei Felix schlafen?«
Megan erwiderte ihren Blick, ohne etwas zu sagen.
»Oder möchtest du vielleicht lieber mit Jaime schlafen?« Amparo trat dichter an sie heran. »Bild dir ja nichts ein, Schwester! Er wäre viel zu sehr Mann für dich.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich interessiere mich nicht für ihn.« Und noch während sie das sagte, fragte Megan sich, ob Jaime Miro tatsächlich viel zu sehr Mann für sie wäre.
Als Felix und Jaime eine Stunde später auf die Burg zurückkehrten, brachte Jaime zwei Kaninchen mit, während Felix Brennholz trug. Er verriegelte die Eingangstür hinter ihnen. Megan beobachtete, wie die Männer in dem riesigen offenen Kamin Feuer machten. Jaime häutete die Kaninchen und briet sie an einem improvisierten Spieß über dem Kaminfeuer.
»Tut uns leid, dass wir euch Damen kein Festmahl bieten können«, erklärte Felix ihnen, »aber das holen wir in Logrono nach. Läßt’s euch trotzdem schmecken.«
Jaime stand auf, sobald sie ihr karges Mahl beendet hatten. »Am besten gehen wir gleich schlafen. Wir müssen morgen schon früh weiter.«
»Komm, Querido«, forderte Amparo ihn auf. »Ich hab’ unser Schlafzimmer schon ausgesucht.«
»Bueno, gehen wir.«
Megan sah ihnen nach, als sie Hand in Hand nach oben gingen.
Felix wandte sich an Megan. »Haben Sie schon ein Zimmer, Schwester?«
»Ja, vielen Dank.«
»Können wir gehen?«
Megan und Felix stiegen miteinander nach oben.
»Gute Nacht«, sagte Megan.
Felix gab ihr seinen Schlafsack. »Gute Nacht, Schwester.«
Megan hätte ihn am liebsten nach Jaime ausgefragt, aber sie schreckte davor zurück. Jaime hätte glauben können, sie wolle ihn bespitzeln, und Megan legte aus irgendeinem Grund großen Wert darauf, dass er eine möglichst gute Meinung von ihr hatte. Wie verrückt! dachte sie. Er ist ein Terrorist, ein Bankräuber, Mörder und weiß Gott was noch alles, und ich mache mir Sorgen darüber, ob er eine gute Meinung von mir hat.
Aber noch während Megan das dachte, erkannte sie, dass es auch eine andere Sicht der Dinge gab. Er ist ein Freiheitskämpfer. Er überfällt Banken, um seinen Kampf finanzieren zu können. Er riskiert sein Leben für das, woran er glaubt. Er ist ein sehr tapferer Mann.
Als Megan am Zimmer der beiden vorbeikam, hörte sie Jaime und Amparo darin lachen. Sie betrat den kahlen, kleinen Raum, in dem sie schlafen sollte, und kniete auf dem kalten Steinboden nieder. »Lieber Gott, vergib mir.« Vergib mir was? Was habe ich getan?
Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Megan nicht beten. War Gott wirklich dort oben und hörte ihr zu?
Megan kroch in den Schlafsack, den Felix ihr überlassen hatte, aber der Schlaf war so fern wie die kalt glitzernden Sterne, die sie durchs schmale Fenster sah.
Was tue ich hier? fragte sich Megan. Sie dachte ans Kloster zurück. ans Waisenhaus. Und vor dem Waisenhaus? Weshalb bin ich dort ausgesetzt worden? Ich glaube nicht wirklich, dass mein Vater ein tapferer Soldat oder ein großer Matador gewesen ist. Aber war ’s nicht wundervoll, etwas über ihn zu erfahren?
Es war schon fast Tag, als Megan endlich einschlief.
In der Haftanstalt in Aranda de Duero war Lucia Carmine eine Berühmtheit.
»Sie sind ein dicker Fisch in unserem kleinen Teich«, erzählte einer der Wärter ihr. »Die italienische Polizei entsendet zwei Beamte, die Sie nach Hause bringen sollen. Ich würd’ Sie auch gern mit heimnehmen, Bonita Puta. Was haben Sie überhaupt angestellt?«
»Ich hab’ einem Mann, der mich Bonita Puta genannt hat, den Schwanz abgeschnitten. Sagen Sie mir lieber, wie’s meinem Freund geht.«
»Er kommt jedenfalls durch.«
Lucia sprach ein stummes Dankgebet. Sie starrte die Steinwände ihrer kahlen, schmuddeligen Zelle an und dachte: Verdammt noch mal, wie kommst du hier bloß wieder raus?
32
Die Meldung von dem Bankraub wurde auf dem gewöhnlichen polizeilichen Dienstweg weitergeleitet, so dass Oberst Acoca erst zwei Stunden nach dem Überfall von einem hohen Polizeibeamten informiert wurde.
Eine Stunde später war der Oberst in Valladolid. Er kochte vor Wut wegen der Verzögerung.
»Weshalb bin ich nicht sofort benachrichtigt worden?«
»Tut mir leid, Oberst, aber wir sind nicht auf die Idee gekommen, dass.«
»Sie haben ihn in der Hand gehabt und wieder laufen lassen!«
»Das ist nicht unsere.«
»Schicken Sie den Bankkassierer rein.«
Der Kassierer blähte sich wichtigtuerisch auf. »Er ist an meinen Schalter gekommen. Ich hab’ ihm sofort angesehen, dass er ein Killer ist. Er.«
»Sie haben keinen Zweifel daran, dass der Mann, der Sie überfallen hat, Jaime Miro gewesen ist?«
»Nicht den geringsten! Er hat mir sogar ein Fahndungsplakat mit seinem Bild gezeigt. Er ist.«
»Ist er allein aufgetreten?«
»Ja. Er hat auf eine in der Schlange wartende Kundin gezeigt und behauptet, sie gehöre seiner Bande an, aber nachdem Miro verschwunden war, habe ich sie erkannt. Sie ist eine Sekretärin, die ihr Gehaltskonto bei uns hat und.«
»Haben Sie gesehen, in welche Richtung Miro geflüchtet ist?« unterbrach Oberst Acoca ihn ungeduldig.
»In Richtung Ausgang.«
Die Befragung des Polizeibeamten war kaum lohnender.
»Sie haben zu viert im Wagen gesessen, Oberst. Jaime Miro und ein anderer vorn, die beiden Frauen hinten.«
»Wohin sind sie gefahren?«
Der Polizeibeamte zögerte. »Vom Ende der Einbahnstraße aus können sie in alle Richtungen gefahren sein«, gab er zu. Seine Miene hellte sich auf. »Aber ich kann das Fluchtfahrzeug beschreiben!«
Oberst Acoca schüttelte angewidert den Kopf. »Sparen Sie sich die Mühe.«
Sie träumte, und im Traum hörte sie die Stimmen des Mobs, der sich zusammenrottete, um sie wegen Banküberfalls auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Ich hab ’s nicht für mich, sondern für die gute Sache getan. Die Stimmen wurden lauter.
Megan öffnete die Augen, setzte sich auf und starrte die ihr fremden Burgmauern an. Aber die Stimmen waren real. Sie kamen von draußen.
Sie sprang auf und hastete an das schmale Fenster. Genau unter ihr hatten Soldaten auf der freien Fläche vor der Burg ein Lager bezogen. Jähe Panik erfüllte Megan. Wir sind umzingelt! Ich muss Jaime finden.
Megan lief zu dem Raum, in dem er mit Amparo geschlafen hatte, und warf einen Blick hinein. Er war leer. Sie rannte die Treppen zur Halle im Erdgeschoß hinunter. Jaime und Amparo standen in der Nähe der verriegelten Eingangstür und flüsterten miteinander.
Felix kam heran. »Ich habe hinten nachgesehen. Es gibt keinen Hinterausgang.«
»Was ist mit den rückwärtigen Fenstern?«
»Viel zu klein. Wir können nur durch diese Tür raus.«
Und dort sind die Soldaten, dachte Megan. Wir sitzen in der Falle.
»Ein Scheißpech, dass sie ausgerechnet hier ihr Lager aufschlagen müssen!« fluchte Jaime halblaut.
»Was tun wir jetzt?« flüsterte Amparo.
»Was sollen wir schon tun? Wir bleiben hier, bis sie abziehen. Vielleicht.«
In diesem Augenblick wurde energisch an die Eingangstür geklopft. »Aufmachen!« verlangte eine befehlsgewohnte Männerstimme.
Jaime und Felix wechselten einen raschen Blick und zogen stumm ihre Pistolen.
»Wir wissen, dass dort jemand drin ist«, rief die Stimme. »Los, macht auf!«
»Verschwindet von der Tür«, forderte Jaime Amparo und Megan auf.
Aussichtslos! dachte Megan, während Amparo hinter Jaime und Felix trat. Dort draußen sind mindestens dreißig Soldaten. Gegen die haben wir keine Chance.
Bevor die anderen reagieren konnten, war Megan an der Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
»Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind!« rief sie klagend aus. »Sie müssen mir helfen!«