Dieser Mann hatte etwas überraschend Weiches an sich - eine sanfte innere Glut.
»Tut mir leid, dass ich Sie anfangs nicht mitnehmen wollte, Schwester«, sagte Jaime plötzlich. »Das ist nichts Persönliches gewesen. Ich habe nur schlechte Erfahrungen mit Ihrer Kirche gemacht.«
»Das kann ich kaum glauben.«
»Glauben Sie’s ruhig!« Seine Stimme klang verbittert.
Vor Jaimes innerem Auge erschienen die Gebäude, Statuen, Plätze und Straßen Guernicas im todbringenden Bombenhagel. Er glaubte, noch immer das schrille Pfeifen der Bomben zu hören, in das sich die Schreie der hilflosen Opfer mischten. Der einzige Zufluchtsort war die Kirche.
Die Pfaffen haben die Kirche abgesperrt! Sie lassen uns nicht rein!
Und dann der tödliche Kugelhagel, in dem seine Eltern und seine Schwestern ihr Leben gelassen haben. Nein, nicht die Kugeln haben ihnen den Tod gebracht, dachte Jaime. Die Kirche hat sie ermordet.
»Ihre Kirche hat hinter Franco gestanden und zugelassen, dass an der Zivilbevölkerung ungeheuerliche Verbrechen begangen worden sind.«
»Die Kirche hat bestimmt dagegen protestiert«, antwortete Megan.
»Nein! Der Papst hat erst mit Franco gebrochen, als Nonnen von Falangisten vergewaltigt, Geistliche ermordet und Kirchen niedergebrannt worden sind. Aber dadurch sind weder meine Eltern noch meine beiden Schwestern wieder lebendig geworden.«
Die Leidenschaft in seiner Stimme war erschreckend.
»Das tut mir leid. Aber es liegt lange zurück. Der Krieg ist vorbei.«
»Für uns nicht, Schwester. Der Staat verbietet uns noch immer, die baskische Flagge zu hissen, nationale Feiertage zu begehen oder unsere eigene Sprache zu sprechen. Wir werden weiterhin unterdrückt, aber wir kämpfen weiter, bis wir die Unabhängigkeit errungen haben. In Spanien leben eine halbe Million Basken, und in Frankreich sind’s weitere hundertfünfzigtausend. Wir wollen unabhängig sein - aber Ihr Gott ist zu beschäftigt, um uns zu helfen.«
»Gott kann nicht Partei ergreifen, denn er ist in uns allen«, sagte Megan ernsthaft. »Wir alle sind ein Teil von ihm, und wenn wir ihn zu zerstören versuchen, zerstören wir uns selbst.«
Zu ihrer Überraschung lächelte Jaime. »Schwester, wir haben viel Ähnlichkeit miteinander, glaube ich.«
»Tatsächlich?«
»Wir glauben vielleicht an verschiedene Dinge, aber wir glauben leidenschaftlich an sie. Die meisten Menschen gehen durchs Leben, ohne sich für irgend etwas wirklich zu engagieren. Sie haben Ihr Leben Gott geweiht; ich weihe es unserer gerechten Sache. Wir setzen uns für etwas ein.«
Ist mein Glauben stark genug? fragte sich Megan. Und weshalb genieße ich es dann, mit diesem Mann zusammen zu sein? Ich dürfte nur eine Sorge haben: Wie komme ich möglichst schnell ins Kloster zurück? Jaime Miro besaß eine geradezu magische Anziehungskraft. Ist er wie Manolete? Setzt er sein Leben aufs Spiel, weil er glaubt, nichts zu verlieren zu haben?
»Was hätten Sie zu erwarten, wenn Sie eines Tages gefasst würden?« fragte Megan.
»Den Tod.« Das sagte er so nüchtern, dass Megan im ersten Augenblick glaubte, sie habe ihn nicht richtig verstanden.
»Haben Sie denn keine Angst?«
»Natürlich habe ich Angst. Wir haben alle Angst. Keiner von uns will sterben, Schwester. Wir treten früh genug vor unseren Schöpfer. Das wollen wir keineswegs beschleunigen.«
»Haben Sie denn solch schwere Verbrechen verübt?«
»Das kommt auf den jeweiligen Standpunkt an. Der Unterschied zwischen einem Patrioten und einem Rebellen hängt davon ab, wer gerade an der Macht ist. Der Staat bezeichnet uns als Terroristen. Wir nennen uns Freiheitskämpfer. Jean-Jacques Rousseau hat gesagt, Freiheit sei die Macht, sich seine Ketten selbst aussuchen zu können. Und diese Freiheit fordere ich für mich.« Jaime betrachtete sie einen Augenblick. »Aber um solche Dinge brauchen Sie sich nicht zu kümmern, habe ich recht? Sobald Sie wieder im Kloster sind, interessieren Sie sich nicht mehr für die Außenwelt.«
Stimmt das wirklich? Megans Ausflug in die Welt jenseits der Klostermauern hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Hatte sie mit dem Eintritt ins Kloster ihre Freiheit aufgegeben? Sie ahnte, dass es unendlich viel zu wissen, zu lernen gab, und fühlte sich wie eine Malerin vor einer leeren Leinwand, auf der sie ein neues Leben entwerfen sollte. Sollte ich ins Kloster zurückkehren, dachte sie, bin ich wieder vom Leben abgeschnitten. Und noch während Megan das dachte, erschrak sie darüber, dass sie das Wort sollte gebraucht hatte. Wenn ich zurückgehe, verbesserte sie sich hastig. Natürlich gehe ich zurück. Wo sollte ich sonst hin?
In dieser Nacht schliefen sie im Wald.
»In zwei Tagen treffen wir uns mit den anderen in Logrono«, sagte Jaime, »und ein paar Stunden später sind Sie im Kloster Mendavia.«
Für immer. »Passiert Ihnen auch nichts?« fragte Megan besorgt.
»Machen Sie sich Sorgen um meine Seele - oder um meinen Leib, Schwester?«
Megan spürte, dass sie errötete.
»Keine Angst, mir passiert nichts. Ich wechsle für einige Zeit nach Frankreich über.«
»Ich werde für Sie beten«, versprach Megan ihm.
»Danke«, sagte Jaime ernst. »Ich werde daran denken, dass Sie für mich beten, und mich sicherer fühlen. Schlafen Sie gut, Schwester. Morgen erreichen wir Leon.«
Als Megan sich abwandte, um in ihren Schlafsack zu kriechen, sah sie Amparo, die sie vom Rand der Lichtung aus anstarrte. Aus ihrem Blick sprach blanker Hass.
Keine nimmt mir meinen Mann weg, Kleine!
34
Am nächsten Vormittag erreichten sie Astorga, ein Dorf westlich von Leon, und kamen an einer Tankstelle mit Reparaturwerkstatt vorbei, in der ein Mechaniker an einem Auto arbeitete. Jaime hielt vor der Werkstatt.
»Buenos dias«, sagte der Automechaniker. »Was ist mit Ihrem Wagen?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Jaime, »würde ich ihn selbst reparieren und mir einen Haufen Geld sparen. Der Motor läuft nicht rund, setzt manchmal aus und hat keine Leistung.«
Der Mechaniker wiegte bedächtig den Kopf. »Zündung oder Vergaser, Senor«, meinte er dann.
Jaime zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nichts von Autos. Ich weiß nur, dass ich morgen einen wichtigen Termin in Madrid habe. Können Sie die Sache bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?«
»Eigentlich kämen zwei angemeldete Kunden vor Ihnen dran, Senor, aber.« Der Mechaniker ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen.
»Ich zahle Ihnen gern den doppelten Stundenlohn.«
Das Gesicht des anderen hellte sich auf. »Können Sie den Wagen bis vierzehn Uhr entbehren?«
»Ohne weiteres. Wir essen eine Kleinigkeit und kommen um vierzehn Uhr zurück.«
Jaime wandte sich an die anderen, die sein Gespräch mit dem Mechaniker erstaunt verfolgt hatten. »Glück gehabt!« erklärte er ihnen. »Dieser Mann repariert uns den Wagen. Kommt, wir gehen essen.«
Sie stiegen aus und folgten Jaime die Straße entlang.
»Vierzehn Uhr!« rief der Mechaniker ihnen nach.
»Vierzehn Uhr«, bestätigte Jaime.
»Spinnst du eigentlich?« fragte Felix, sobald sie außer Hörweite waren. »Der Wagen ist völlig in Ordnung!«
Aber die Polizei fahndet inzwischen nach ihm, überlegte sich Megan. Allerdings sucht sie ihn auf der Straße, nicht in einer Werkstatt. Das ist ein raffinierter Trick, um ihn loszuwerden.