Den letzten Wein hatte Megan bei ihrer Kommunion getrunken. »Ja, bitte«, sagte sie.
Megan hob langsam das Glas an die Lippen und trank einen kleinen Schluck Wein. Er schmeckte köstlich. Sie nahm einen weiteren Schluck und glaubte zu spüren, wie ein Wärmegefühl sich durch ihren Körper ausbreitete. Ein wunderbares Gefühl! Ich muss alles genießen, solange ich kann, dachte sie. Es ist bald genug vorbei.
Beim Abendessen wirkte Jaime ungewohnt geistesabwesend.
»Hast du Sorgen, Amigo?« erkundigte Felix sich.
Jaime zögerte. »In unserer Bewegung gibt’s einen Verräter«, sagte er dann.
Am Tisch herrschte schockiertes Schweigen.
»Wie. wie kommst du darauf?« wollte Felix wissen.
»Acoca hat mich darauf gebracht. Er ist uns in letzter Zeit zu dicht auf den Fersen.«
Felix zuckte mit den Schultern. »Er ist der Fuchs, und wir sind die Hühner.«
»Nein, die Sache ist ernster.«
»Wie meinst du das?« fragte Amparo.
»Als wir den Staudamm bei Puenta la Reina sprengen wollten, hat Acoca einen Tip bekommen.« Jaime sah zu Felix hinüber. »Er hat uns eine Falle gestellt und Ricardo, Zamora und dich gefangen genommen. Hätte ich mich nicht verspätet, wäre ich mit euch geschnappt worden. Und du weißt selbst, was im Parador passiert ist.« »Du hast gehört, wie der Geschäftsführer mit der Polizei telefoniert hat«, stellte Amparo fest.
Jaime nickte. »Richtig - weil ich das Gefühl gehabt habe, irgendwas sei nicht in Ordnung.«
Amparos Miene war ernst. »Hast du schon einen bestimmten Verdacht?«
Jaime schüttelte den Kopf. »Jedenfalls jemand, der unseren Plan kennt.«
»Dann ändern wir ihn einfach ab!« schlug Amparo vor. »Wir treffen uns mit den anderen in Logrono und verzichten auf den Abstecher nach Mendavia.«
Jaime sah zu Megan hinüber. »Das können wir nicht. Wir müssen die Schwestern nach Mendavia bringen.«
Megan erwiderte seinen Blick und dachte: Er hat schon mehr als genug für mich getan. Ich darf ihn nicht in noch größere Gefahr bringen.
»Jaime, ich kann.«
Aber er wusste, was sie sagen wollte. »Mach dir keine Sorgen, Megan. Wir alle bringen dich sicher hin.«
Er hat sich verändert, dachte Amparo. Ursprünglich hat er nichts mit den Nonnen zu tun haben wollen. Jetzt ist er bereit, für sie sein Leben zu riskieren.
Jaime sprach weiter. »Übrigens kennen unseren Plan mindestens fünfzehn Leute.«
»Wir müssen rauskriegen, wer ihn verraten hat!« forderte Amparo hartnäckig.
»Wie sollen wir das anstellen?« fragte Felix. Er spielte nervös mit einem Zipfel des Tischtuchs.
»Paco ist in Madrid und stellt dort Ermittlungen für mich an«, sagte Jaime. »Er hat den Auftrag, mich hier anzurufen.« Er blickte kurz zu Felix hinüber und sah wieder weg.
Was Jaime nicht erwähnt hatte, war die Tatsache, dass nur ein halbes Dutzend seiner Leute die genaue Route der drei Gruppen kannte. Es stimmte, dass Felix Carpio von Acoca gefangen genommen worden war. Es stimmte aber auch, dass diese Gefangennahme ein perfektes Alibi für Felix gewesen wäre. Im richtigen Augenblick hätte Acoca ihm dann die Flucht ermöglichen können.
Aber ich bin ihm zuvorgekommen, dachte Jaime. Paco überprüft die näheren Umstände des Falls. Hoffentlich ruft er bald an.
Amparo stand auf und wandte sich an Megan. »Komm, hilf mir abwaschen.«
Während die beiden Frauen das Geschirr abräumten, gingen die Männer ins Wohnzimmer hinüber.
»Die Nonne hält sich gut, was?« meinte Felix.
»Ja.«
»Du magst sie, stimmt’s?«
Jaime fand es schwierig, seinen Blick zu erwidern. »Ja, ich mag sie.« Und du würdest sie wie uns alle verraten.
»Was ist mit dir und Amparo?«
»Wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Sie ist von unserer gerechten Sache so überzeugt wie ich. Francos Falangisten haben ihre ganze Familie umgebracht.« Jaime stand auf und reckte sich. »Wird langsam Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Ich tue bestimmt die ganze Nacht kein Auge zu. Weißt du bestimmt, dass es einen Verräter gibt?«
Jaime erwiderte seinen Blick. »Ganz bestimmt!«
Als Jaime am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, erkannte Megan ihn nicht. Sein Teint war dunkler, und er trug eine Perücke und einen angeklebten Schnurrbart. Seine schäbige Kleidung war nicht allzu sauber. In dieser Aufmachung sah er zehn Jahre älter aus.
»Guten Morgen«, sagte er. Und seine vertraute Stimme, die aus dieser fremden Gestalt kam, erschreckte sie fast.
»Woher hast du.?«
»Dieses Haus ist einer meiner gelegentlichen Zufluchtsorte. Ich bewahre hier alle möglichen Dinge auf, die ich benötigen könnte.«
Das sagte er ganz beiläufig, aber Megan erhielt dadurch plötzlich Einblick in das Leben, das Jaime führte. Wie viele weitere Häuser und Verkleidungen brauchte er, um überleben zu können? Wie oft mochte er dem Tod nur mit knapper Not entgangen sein? Sie erinnerte sich an die Brutalität der Männer, die das Kloster überfallen hatten, und dachte: Wenn sie Jaime fangen, hat er keine Gnade zu erwarten. Ich wollte, ich könnte ihn beschützen.
Durch Megans Kopf schwirrten Gedanken, die sie auf keinen Fall haben durfte.
»Wie lange bleiben wir hier?« erkundigte Felix sich während des von Amparo zubereiteten Frühstücks.
»Wir brechen auf, wenn’s dunkel wird«, antwortete Jaime ganz beiläufig.
Aber er hatte nicht die Absicht, Felix diese Information weitergeben zu lassen.
»Ich habe einiges zu erledigen«, erklärte er Felix. »Dabei brauche ich deine Hilfe.«
»Wird gemacht.«
Jaime rief Amparo nach draußen. »Sollte Paco anrufen, sagst du ihm, dass ich bald zurückkomme. Vielleicht kannst du mir was ausrichten.«
Sie nickte. »Sei vorsichtig!«
»Mach dir keine Sorgen.« Er wandte sich an Megan. »Dein letzter Tag. Morgen bist du wieder im Kloster. Du hast’s bestimmt eilig, dorthin zu kommen.«
Sie sah ihn lange an. »Ja.« Ich hab ’s nicht wirklich eilig, dachte sie. Eher im Gegenteil. Ich wollte, ich hätte es eilig. Ich werde mich wieder hinter Klostermauern verkriechen, aber mich mein Leben lang fragen, was aus Jaime und Felix und den anderen geworden sein mag.
Megan beobachtete, wie Jaime und Felix das Haus verließen. Zwischen den beiden Männern herrschte eine ihr unerklärliche Spannung.
Amparo musterte sie prüfend, und Megan erinnerte sich an ihre Behauptung: ]aime ist viel zuviel Mann für dich.
»Du machst die Betten«, wies Amparo sie kurz an. »Ich bereite das Mittagessen vor.«
»Einverstanden.«
Megan ging in die Schlafzimmer hinauf. Amparo starrte ihr nach, bevor sie selbst in der Küche verschwand.
Die nächste Stunde verbrachte Megan damit, sich auf Putzen, Bettenmachen und Staubwischen zu konzentrieren, um möglichst wenig an das Thema denken zu müssen, das sie nicht mehr losließ.
Ich muss ihn aus meinen Gedanken verbannen, dachte sie.
Aber das war unmöglich. Er glich einer Naturgewalt, die sich über alles ihr im Weg Stehende hinwegsetzte.
Sie schrubbte energischer.
Als Jaime und Felix zurückkamen, erwartete Amparo die beiden an der Haustür. Felix wirkte blass und angespannt.
»Mir geht’s nicht allzu gut. Ich lege mich ein bisschen hin, glaube ich.«
Sie beobachteten, wie er in einem der Schlafzimmer verschwand.
»Paco hat angerufen!« berichtete Amparo aufgeregt.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat Informationen für dich, über die er am Telefon allerdings nicht reden wollte. Statt dessen schickt er einen seiner Männer her, mit dem du dich um zwölf Uhr auf dem Stadtplatz treffen sollst.«