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Ein kalter Schauder durchlief sie. »Was geschieht jetzt?«

»Ich bringe dich nach oben ins Bett. Du schläfst friedlich ein.«

Amparo hatte Tränen in den Augen. »Du bist ein Dummkopf«, flüsterte sie. »Jaime, ich. ich sterbe - und trotzdem sollst du. wissen, dass ich dich sehr geliebt hab’.« Ihre Stimme klang bereits undeutlich.

Jaime stand auf und zog Amparo hoch. Sie schwankte unsicher. Der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen.

»Jaime.«

Er führte sie eng umschlungen aus der Bar in die Hotelhalle, wo Largo Cortez ihn mit zwei Schlüsseln in der Hand erwartete.

»Ich bringe sie in ihr Zimmer«, erklärte Jaime ihm. »Sie braucht Ruhe und darf nicht gestört werden.«

»Dafür sorge ich.«

Megan beobachtete, wie Amparo die Treppe hinauf von Jaime halb gestützt, halb getragen wurde.

In ihrem Zimmer dachte Megan darüber nach, wie seltsam es war, allein in einem Hotelzimmer eines Badeortes zu sein. San Sebastian wimmelte von Touristen, Flitterwöchnern und Liebespaaren, die sich in Hunderten von anderen Hotelzimmern vergnügten. Und plötzlich wünschte Megan sich, Jaime wäre hier bei ihr, und fragte sich, wie es wäre, von ihm geliebt zu werden.

Aber was hatte er Amparo angetan? Hatte er sie etwa.? Nein, dazu wäre er nie imstande gewesen! Oder vielleicht doch?

Zuletzt siegte ihre Entschlossenheit, nur Gutes von Jaime zu glauben. Aber dann überschwemmten Megans lange aufgestauten Gefühle ihren Verstand mit einer Sturzflut widersprüchlicher Emotionen. Ich begehre ihn, gestand sie sich ein. Mein Gott, was geschieht mit mir? Was soll ich dagegen tun? Wo soll das alles enden?

Ricardo pfiff vor sich hm, während er sich nach dem Duschen anzog. Er war bester Laune. Ich bin der glücklichste Mann der Welt, sagte er sich. In Frankreich können wir heiraten. Vielleicht in der schönen Kirche in Bayonne. Gleich morgen bestellen wir das Aufgebot...

Graciela lag in dem zu ihrem Zimmer gehörenden Bad in der Wanne, genoss das warme Wasser und dachte dabei an Ricardo. Ich werde ihn nach Kräften glücklich machen, nahm sie sich lächelnd vor. Herr, ich danke dir!

Felix Carpio dachte über Jaime und Megan nach. Dass es zwischen den beiden gefunkt hat, sieht ein Blinder. Das bringt bestimmt Unglück. Nonnen gehören Gott. Schlimm genug, dass Ricardo Schwester Graciela dazu gebracht hat, auf ihre Berufung zu verzichten. Und Jaime hat sich immer genommen, was er wollte. Was hat er mit der Klosterschwester vor?

Die fünf trafen sich zum Abendessen im Speisesaal des Hotels Niza. Keiner von ihnen erwähnte Amparo Jiron.

Als Megan Jaimes Blick auf sich spürte, wurde sie plötzlich verlegen, als könne er ihre Gedanken lesen. Wahrscheinlich ist’s besser, keine fragen zu stellen, dachte sie. Ich weiß, dass er zu keiner Brutalität imstande wäre.

Wie sich zeigte, hatte Largo Cortez nicht übertrieben, als er ihnen ein gutes Abendessen versprochen hatte. Es begann mit Gazpacho, der dicken kalten Suppe aus Tomaten, Gurken und eingeweichtem Brot; danach gab es grünen Salat, eine riesige Schüssel Paella - Reis mit Krabben-, Huhn- und Rindfleisch in wunderbarer Sauce - und zuletzt eine köstliche Obsttorte. Für Ricardo und Graciela war dies seit Tagen wieder die erste warme Mahlzeit.

Nach dem Kaffee stand Megan auf. »Ich gehe lieber gleich ins Bett, glaube ich.«

»Warte«, verlangte Jaime. »Ich habe mit dir zu reden.« Er führte sie in eine Ecke der Hotelhalle, in der sie ungestört waren. »Was morgen betrifft.«

Und sie wusste, was er fragen würde. Aber sie wusste nicht, was sie antworten würde. Ich habe mich verändert, dachte Megan. Früher bin ich mir meines Lebens so sicher gewesen. Ich habe geglaubt, ich sei wunschlos glücklich.

»Du willst nicht wirklich ins Kloster zurück, stimmt’s?« fuhr Jaime fort.

Will ich das?

Er wartete auf ihre Antwort.

Ich muss ihm gegenüber rückhaltlos ehrlich sein, überlegte Megan. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Ich weiß nicht, was ich will, Jaime. Ich bin völlig durcheinander.«

Jaime lächelte. Aber er zögerte noch und wählte seine Worte bedachtsam. »Megan.. dieser Kampf ist bald zu Ende. Wir werden bekommen, was wir fordern, weil das Volk hinter uns steht. Ich kann dir nicht zumuten, die Gefahren mit mir zu teilen, aber ich möchte, dass du auf mich wartest. Ich habe viele baskische Freunde, die in Frankreich leben. Bei ihnen wärst du sicher.«

Megan betrachtete ihn lange, bevor sie antwortete. »Lass mir Zeit, darüber nachzudenken, Jaime.«

»Du sagst also nicht nein?«

»Ich sage nicht nein«, bestätigte Megan ruhig.

Keiner der fünf konnte in dieser Nacht schlafen. Sie alle hatten zuviel zu überlegen, zu viele Konflikte zu lösen. Megan lag wach im Bett und ließ die Vergangenheit an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die langen Jahre im Waisenhaus und hinter Klostermauern. das plötzliche Hinausgestoßenwerden in eine Welt, der sie für ewig entsagt hatte. Jaime Miro wagte sein Leben für eine Sache, an die er glaubte. Und woran glaube ich? fragte Megan sich. Wie will ich den Rest meines Lebens verbringen?

Sie hatte schon einmal eine Wahl getroffen. Jetzt musste sie sich erneut entscheiden. Morgen früh würde Jaime eine Antwort von ihr verlangen.

Auch Graciela dachte ans Kloster zurück. Dort habe ich so glückliche, friedvolle Jahre verbracht. Ich habe mich Gott so nahe gefühlt. Ob mir das fehlen wird?

Jaime dachte an Megan. Sie darf nicht ins Kloster zurückgehen! Ich will sie an meiner Seite haben. Wie wird ihre Antwort lauten?

Ricardo war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er machte Pläne für ihre Hochzeit. Die Kirche in Bayonne...

Felix fragte sich, wie sie Amparos Leiche beseitigen sollten. Am besten überlassen wir das Largo Cortez.

Als die Gruppe sich sehr früh am nächsten Morgen in der Hotelhalle traf, zog Jaime Megan beiseite.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Jaime.«

»Hast du über unser Gespräch nachgedacht?«

Sie hatte die ganze Nacht lang nichts anderes getan. »Ja, Jaime.«

Er sah ihr in die Augen, als versuche er, dort die Antwort abzulesen. »Wartest du auf mich?«

»Jaime, ich.«

In diesem Augenblick kam Largo Cortez herangehastet. Er brachte einen drahtigen Fünfziger mit von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht mit.

»Tut mir leid, aber fürs Frühstück bleibt heute keine Zeit«, sagte der Hotelbesitzer. »Ihr solltet sofort aufbrechen. Das hier ist Jose Cebrian, euer Führer. Er bringt euch über die Berge nach Frankreich. Er ist der beste Führer San Sebastians.«

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Jose«, sagte Jaime Miro. »Was hast du mit uns vor?«

»Wir fahren ein Stück weit und marschieren den Rest des Weges bis zur Grenze«, erklärte Jose seinen Schutzbefohlenen. »Auf der anderen Seite warten dann wieder Fahrzeuge auf uns. Kommt, wir haben’s eilig!«

Die fünf traten auf die Straße hinaus, die im gelblichen Licht der Morgensonne vor ihnen lag.

Largo Cortez kam aus seinem Hotel, um sie zu verabschieden. »Glückliche Reise!« wünschte er ihnen.

»Vielen Dank für alles«, antwortete Jaime. »Wir kommen zurück, Amigo. Vielleicht schneller, als du denkst.«

»Kommt, die Autos stehen in der nächsten Seitenstraße«, drängte Jose.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. In diesem Augenblick tauchten an beiden Enden der Straße Soldaten und GOE-Angehö-rige auf und riegelten sie ab. Die schwerbewaffneten Uniformierten standen unter dem Kommando der Obersten Ramon Acoca und Fal Sostelö.