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Stendahl genoß sie in vollen Zügen: Die Trübsal, die Düsterkeit, die übelriechenden Dämpfe, die >Atmosphäre< - es war alles so wohlabgewogen! Und das Haus erst! Ein einziger modriger Schrecken -dazu der entsetzliche See, die stinkenden Pilzkolonien, der fortgeschrittene Zerfall! Plastik oder nicht - wer ahnte schon die Wahrheit?

Er sah zum herbstlichen Himmel auf. Irgendwo da oben, weit entfernt, war die Sonne. Irgendwo war es April auf dem Planeten Mars, ein heller Monat mit blauem Himmel. Irgendwo über ihm brannten Raketen herab, um einen wunderbaren toten Planeten zu zivilisieren. Ihr kreischender Lärm drang nur gedämpft in diese trübe, abgeschirmte Welt, in diesen alten, alten Herbst.

»Nachdem meine Arbeit nun getan ist«, sagte Mr. Bigelow unsicher, »möchte ich mir gern die Frage erlauben, was Sie mit all dem anfangen wollen.«

»Mit Ascher? Haben Sie’s noch nicht erraten?«

»Nein.«

»Bedeutet Ihnen der Name Ascher überhaupt nichts?«

»Nein.«

»Wie steht es dann mit dem Namen Edgar Allan Poe? Kennen Sie den?«

Mr. Bigelow schüttelte den Kopf.

»Natürlich.« Mit einer Mischung aus Bestürzung und Verachtung schnaubte Mr. Stendahl durch die Nase. »Wie konnte ich erwarten, daß Sie Poe kennen! Er ist schon vor langer Zeit gestorben, noch vor Lincoln. Alle seine Bücher wurden im Großen Feuer verbrannt. Das war vor dreißig Jahren - 1975.«

»Aha«, sagte Mr. Bigelow wissend. »Einer von denen!«

»Ja, einer von denen, Bigelow. Er und Lovecraft und Hawthorne und Ambroise Bierce und all die Schreckens- und Fantasiegeschichten - und im gleichen Aufwasch wurden auch alle Zukunftserzählungen verbrannt. Erbarmungslos. Ein neues Gesetz. Dabei fing alles so harmlos an. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es nur Lappalien. Man begann Zensur auszuüben auf Comic Strips und dann auf Kriminalromane und natürlich auf Filme; Zensur auf diese oder jene Weise, durch diese oder jene Gruppe, Zensur nach politischer Tendenz, religiösen Vorurteilen, nach Wünschen der Gewerkschaften; es gab immer eine Minderheit, die sich vor irgend etwas fürchtete, und eine breite Mehrheit, die Angst hatte vor dem Dunklen, vor der Zukunft, vor der Vergangenheit, die auch Angst hatte vor der Gegenwart, vor sich selbst und vor ihrem eigenen Schatten.«

»Ich verstehe.«

»Man hatte Angst vor dem Wort >Politik< (das, wie ich höre, mit der Zeit in gewissen reaktionären Kreisen gleichbedeutend mit Kommunismus wurde, und es war lebensgefährlich, das Wort in den Mund zu nehmen!), und es wurde hier eine Schraube angezogen und da eine Schraube angezogen, es wurde gestoßen und gezerrt, und Kunst und Literatur waren bald nur noch ein großer Karamelstrang, der zerfilzt, zu Zöpfen zerrissen, zu Knoten verschlungen und in alle Richtungen zerstreut wurde, bis er keine Spannkraft und keinen Geschmack mehr hatte. Dann standen die Filmkameras still, und die Theater wurden dunkel, und die Druckereien stießen keinen Niagarafall an Lesestoff mehr aus, sondern nur noch ein paar harmlose Tropfen >reinen< Materials. Oh, das Wort >Flucht< galt als radikal, kann ich Ihnen sagen.«

»Wirklich?«

»Allerdings. Jeder Mensch, so hieß es, müsse der Wirklichkeit ins Auge sehen, müsse den Augenblick bewältigen. Und was dieser Maxime nicht entsprach, mußte verschwinden. All die herrlichen Erfindungen und Fantasieflüge der Literatur waren zum Untergang verdammt. Sie wurden 1975 eines Sonntagmorgens an einer Bibliothekswand aufgereiht; der Nikolaus und der kopflose Reiter und Schneewittchen und Rumpelstilzchen und Frau Holle - oh, was war das für ein Wehklagen! -, und sie wurden alle erschossen, und die papiernen Schlösser wurden verbrannt, ebenso wie die verzauberten Frösche und alten Könige und die Leute, die glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende lebten (denn natürlich war es eine Tatsache, daß niemand glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende lebte!), und >Es war einmal< wurde zu einem >Es wird nie mehr!<. Und die Asche der Verzauberten Rikscha wurde zusammen mit den Trümmern aus dem Lande Oz verstreut, die gute Glinda und Ozma wurden zu Filets verarbeitet, Polychrome zerrte man in einem Spektroskop auseinander, und Jack Kürbiskopf wurde beim Biologenball mit Baiser serviert! Die große Bohnenpflanze ging unter den Hufen des Amtsschimmels zugrunde. Dornröschen erwachte vom Kusse eines Wissenschaftlers und starb an der Injektion, die er ihr gab. Und Alice mußte etwas aus einer Flasche trinken, das sie so klein machte, daß sie nicht einmal mehr >Merkwürdig, merkwürdig< sagen konnte, und man zerschmetterte ihren Spiegel, womit auch das Leben des Roten Königs und der Austern ausgelöscht wurde.«

Er ballte die Fäuste. Herrgott, wie nahe ihm das ging! Er war rot angelaufen und schnappte nach Luft.

Mr. Bigelow erstaunte der lange Ausbruch. Er blinzelte und sagte schließlich: »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Das sind alles nur nichtssagende Namen für mich. Soweit ich das beurteilen kann, war die Verbrennung doch recht sinnvoll.«

»Raus!« brüllte Stendahl. »Sie haben Ihre Arbeit getan - lassen Sie mich jetzt allein, Sie Idiot!«

Mr. Bigelow rief seine Zimmerleute zusammen und verschwand.

Mr. Stendahl stand allein vor seinem Haus.

»Hört!« sagte er zu den unsichtbaren Raketen. »Ich bin zum Mars gekommen, um euch >sauber< denkenden Leuten zu entkommen, aber tagtäglich vermehren sich eure Heerscharen auch hier - wie die Fliegen, die zum verwesenden Fleisch kommen. Also werd ich’s euch zeigen. Ich erteile euch eine schöne Lektion für das, was ihr Mr. Poe auf der Erde angetan habt. Von heute an müßt ihr euch vorsehen. Das Haus Ascher steht bereits!«

Und er schüttelte drohend die Faust gen Himmel.

Die Rakete landete. Federnden Schrittes trat ein Mann heraus. Er betrachtete das Haus, und in seinen grauen Augen stand ein mißbilligender, beunruhigter Ausdruck. Er überquerte den Graben, der das Haus umgab, und trat vor den kleinen Mann hin.

»Sind Sie Mr. Stendahl?«

»Ja.«

»Mein Name ist Garret. Ich bin Ermittler der Moralbehörde.«

»Ah, dann sind Sie also auch endlich zum Mars vorgedrungen? Ich hatte mich schon gefragt, wie lange das noch dauern würde.«

»Wir haben letzte Woche die Arbeit aufgenommen und gedenken den Mars in Kürze so zu reinigen wie die Erde.«

Der Mann machte mit seinem Ausweis eine gereizte Bewegung zum Haus hin. »Vielleicht erzählen Sie mir mal etwas darüber, Stendahl.«

»Es ist ein Gespensterschloß, wenn Sie so wollen.«

»Das gefällt mir nicht, Stendahl. Das Wort >Gespenster< gefällt mir nicht!«

»Ganz einfach. Im Jahre unseres Herrn 2005 habe ich ein mechanisches Heiligtum gebaut. Darin schwirren metallene Fledermäuse, die von Elektronenstrahlen gesteuert werden, und Messingratten rasen in Kunststoffkellern herum, und weiße Robotskelette tanzen; es gibt Robotvampire, Harlekine, Wölfe und weiße Gespenster, aus Chemie und Fantasie erschaffen. Ich wohne dort.«

»Das hatte ich geahnt«, sagte Garrett und lächelte zurückhaltend. »Ich fürchte, wir werden das Ganze einreißen müssen.«

»Ich wußte, daß Sie auftauchen würden, sobald Sie erfuhren, was hier vorging.«

»Ich wäre schon eher gekommen, aber die Moralbehörde wollte erst Ihre Absichten kennen, ehe sie etwas unternahm. Wir können die Abbruchfirma und die Feuerwehr schon zum Abend hier haben. Um Mitternacht ist das ganze Haus bis auf den Keller runtergerissen. Mr. Stendahl, Sie kommen mir ein wenig wie ein Narr vor. Sie verschwenden schwerverdientes Geld für derartigen Unsinn. Das Ganze muß Sie doch mindestens drei Millionen Dollar gekostet haben.«

»Sogar vier Millionen! Aber, Mr. Garrett, ich habe als junger Mann fünfundzwanzig Millionen geerbt und kann es mir wirklich leisten, damit herumzuwerfen. Trotzdem ist es außerordentlich schade, daß Sie, nachdem das Haus erst seit einer Stunde fertiggestellt ist, schon mit Ihren Abbruchkommandos angerückt kommen. Dürfte ich nicht mal mit meinem Spielzeug spielen - sagen wir, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang?«